Nationalsozialismus Nationalsozialismus: Jungmann statt Schüler

Es gibt einhundert Bewerber, alles Jungen. Ein Vertreter der Schule in schwarzer Uniform ordnet sie in vier Reihen an. Orden glänzen auf seiner Jacke, als er vor ihnen entlanggeht. ’Ihr habt den Wunsch’, erklärt er, ’in eine der besten Eliteschulen der Welt einzutreten. Die Prüfungen werden acht Tage dauern. Wir nehmen nur die Reinsten, nur die Stärksten.’ Am zweiten Morgen stehen rassische Untersuchungen an. Sie verlangen von Werner wenig mehr, als dass er die Arme hebt und nicht blinzelt, während ihm einer der Ärzte mit einer kleinen Taschenlampe in die Tunnel seiner Pupillen leuchtet. Er schwitzt und verlagert sein Gewicht. Sein Herz schlägt viel zu schnell. Ein Techniker mit Zwiebelatem, der einen Laborkittel trägt, vermisst den Abstand zwischen Werners Schläfen, den Umfang seines Kopfes und die Dicke und Form seiner Lippen. Mit Schiebern messen sie die Größe seiner Füße, die Länge seiner Finger und den Abstand zwischen Augen und Bauchnabel ... und mit einem hölzernen Winkelmesser auch die Neigung seiner Nase.“
So geschieht es Werner Hausner, einem schmächtigen und semmelblonden Waisenjungen aus dem Ruhrgebiet, während der Aufnahmeprüfung für eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt (NPEA) im Deutschen Reich. Angenommen wurde der Junge aus Essen in Schulpforta, für ihn ein Glücksumstand. „Es ist ein winziger Punkt auf der Karte, bei Naumburg in Sachsen. Gut dreihundert Kilometer östlich. Nur in seinen kühnsten Träumen hat er sich die Hoffnung erlaubt, einmal so weit zu reisen.“
Werner ist eine der beiden Hauptfiguren im Buch des nordamerikanischen Autors Anthony Doerr, welches 2014 unter dem Titel „All the Light We Cannot See“ in New York erschien und binnen weniger Monate über eine Million Mal in den USA verkauft wurde. Der hochgelobte Bestseller machte damit den Namen „Schulpforta“ als Nationalpolitische Erziehungsanstalt schlagartig einer überaus großen Leserschaft bekannt. Inzwischen erschien der Roman in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Alles Licht das wir nicht sehen“.
Möglicherweise so ähnlich wie im vorliegenden Roman ging es ab 1935 tatsächlich in Schulpforte zu. In diesem Jahr war das bestehende humanistische Gymnasium in eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt, umgangssprachlich „Napola“, gewandelt worden, verbunden mit einschneidenden Konsequenzen für einen wesentlichen Teil der Lehrer und für zahlreiche Schüler. Nur zwei Lehrer aus dem alten Lehrerkollegium verblieben weiterhin im Dienst, alle anderen wurden durch neue Lehrer ersetzt, ein Anstaltsleiter führte nun die Schule.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Frühling 1945 existierte die Nationalpolitische Erziehungsanstalt Schulpforta - eine überaus kurze Episode in der inzwischen nahezu 475-jährigen Geschichte der Landesschule Pforta. Der Besuch dieser „Gemeinschaftserziehungsstätte“ führte zur Hochschulreife. Hauptaufgabe der Eliteschule für den nationalsozialistischen Führungsnachwuchs war die „Erziehung zu Nationalsozialisten, tüchtig an Leib und Seele für den Dienst an Volk und Staat“. Schulpforta wurde die 14. Gründung von schließlich über 40 Erziehungsanstalten dieser Art im Deutschen Reich sowie in dessen angegliederten Territorien zwischen 1933 und 1945. Bereits zuvor war die NPEA in Naumburg 1934 in der einstigen Kadettenanstalt eröffnet worden.
Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten standen unter anderem in der Tradition vormilitärischer Ausbildung der ehemaligen Kadettenanstalten des Kaiserreichs und waren nunmehr organisatorisch von der allgemeinen Schulverwaltung getrennt. Der Schüler hieß jetzt Jungmann, die Klassen wurden zu Zügen, und alle Jungmannen erhielten eine Uniform. In der NPEA Schulpforta waren diese mit gelben Schulterklappen und mit einem dreieckigen Ärmel Aufnäher „NPEA Schulpforta“ ausgestattet. Die Ehrendolche jeder dieser Erziehungsanstalten zierte die Klingenaufschrift „Mehr sein als scheinen“.
Insgesamt sollten nur drei vollständig in der NPEA Schulpforta ausgebildete Abiturjahrgänge die Schule verlassen. Die zuletzt eingeschulten Jahrgänge zogen bereits nach verkürzter Schulzeit mit einem Notzeugnis in den Krieg oder erlebten das Kriegsende in der Erziehungsanstalt. Neben der klassischen Schulausbildung, zu der in Schulpforta auch weiterhin der Altsprachenunterricht zählte, erhielten die Jungmannen zusätzlich unter anderem Schießausbildung mit dem Kleinkalibergewehr, konnten an einer Segelfliegerausbildung am Westhang des Köppelberges teilnehmen oder bekamen eine Fecht- und Reitausbildung. Motorsport und die Möglichkeit, den Führerschein zu erlangen, gehörten ebenso zu Schulausbildung wie auch Modellbau oder die Tätigkeit als Betreuer von Seidenraupen, damit Fallschirme für die Luftwaffe produziert werden konnten. Alles Dinge, die die Jungen an der Schule durchaus zu schätzen wussten.
Die damals neu gebauten Garagen für die von der NPEA angeschafften Autos und Motorräder sind die einzigen noch sichtbar erhaltenen Bauten aus der Zeit zwischen 1935 und 1945 auf dem heutigen Schulgelände. Weitere Pläne für andere neue Gebäude kamen durch den Kriegsbeginn 1939 nicht mehr zur Ausführung. Die bald eingerichteten Luftschutzkeller der Schule, in denen auch Unterricht abgehalten wurde, sind heute nur noch in stark veränderten Grundstrukturen erhalten. Tagsüber hatten die Jungmannen auch Wachdienst im Schilderhäuschen vor dem Hauptportal der ehemaligen Klosteranlage. Strukturiert wurde der Schulablauf durch Appelle und das Hissen der Reichsfahne.