Bewegter Untergrund Bewegter Untergrund: Baden in der Katastrophe

Arendsee/MZ. - Es muss ein gewaltiger Lärm gewesen sein, der im Jahr 822 die Bewohner der kleinen wendischen Siedlungen ganz im Norden des heutigen Sachsen-Anhalts aufschreckte. Bei dem Gerumpel dürfte die Elb-Slawen wohl an das Ende der Welt geglaubt haben. Und tatsächlich hatte sich die Erde aufgetan, hatte sich ein Höllenschlund offenbart: Dort, wo tags zuvor noch Wiesen und Wälder einen kleinen Teich umgaben, tat sich ein gewaltiges Loch von mehreren hundert Meter Durchmesser auf, das sich rasch mit Wasser füllte. Die Katastrophe, die fünf Jahre später Eingang in die Annalen Karl des Großen findet, gilt als Geburtsstunde des größten natürlichen Gewässers des Landes - dem Arendsee. Heute eines der beliebtesten Ausflugsziele der Region.
Auslöser war ein Erdfall - ein Ereignis, für das gerade Sachsen-Anhalt prädestiniert zu sein scheint: Ein- bis zweimal pro Monat werde ein Erdfall registriert, sagt Geologe Ulrich Herold vom Landesbergamt. Seit 1960 sind im Erdfall-Kataster des Landes 750 solcher Ereignisse registriert - womit Sachsen-Anhalt zusammen mit Thüringen an der Spitze des bundesweiten Erdfall-Aufkommens liegt.
Durchmesser bis drei Meter
Weitere 4 000 dieser Löcher aus historischer Zeit sind zudem auf dem Gebiet Sachsen-Anhalts erfasst, die meisten davon in einer Linie südlich des Harzes bis in die Gegend von Eisleben und Hettstedt (Mansfeld-Südharz). Natürlich sind diese in der Regel nicht von solch' gewaltigem Ausmaß wie am Arendsee. "Meist bilden sich Löcher mit einem Durchmesser von einem bis drei Meter", sagt der Erdfall-Experte. Und die Erdfälle sind auch nicht eine Folge des jahrhundertelangen Bergbaus in der Region, sondern der besonderen geologischen Beschaffenheit des Untergrundes.
Ursache sind dabei wasserlösliche Gesteine, vor allem Salze und Gips, die im äußersten Norden des Landes sowie am Südrand des Harzes immer wieder dafür sorgen, dass sich plötzlich Löcher auftun. Im Fall des Arendsees ist es ein Salzstock, der 500 Meter mächtig ist und sich pilzförmig bis kurz unter die Erdoberfläche wölbt. Diese von Geologen Diapir genannte Erscheinung ist nur von wenig anderen Gesteinen und Erde bedeckt - als kritische Grenze gelten 50 Meter - so dass er ständig Kontakt zum Grundwasser hat. Dieses löst das Salz, Hohlräume entstehen und am Ende kann das über dem Salz liegende Erdreich der eigenen Last nicht mehr standhalten - es bricht ein.
Die natürlichen Ursachen, die zur Entstehung der Erdfälle führen, machen deren Beseitigung aus finanziellen Gründen schwierig: "Es handelt sich, anders als bei Schäden durch den Bergbau, um höhere Gewalt", sagt Bodo-Carlo Ehlig, Dezernatsleiter Geologie im Landesbergamt. Anders als bei Schäden durch den Bergbau, wo im besten Fall der Verursacher haftet oder wenigstens das Land betroffenen Kommunen mit Fördermitteln hilft, gibt es bei Erdfällen in der Regel keine finanzielle Unterstützung: "Wir schauen uns das natürlich an, aber der Rest ist das Los der Grundstückseigener", sagt Erdfall-Experte Herold. Daher ist auch davon auszugehen, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt als die Zahl der offiziell gemeldeten Fälle. Wenn sich irgendwo im Garten ein Loch auftut und bergbauliche Aktivitäten auszuschließen sind, behilft sich der Eigentümer häufig selbst - mit ein paar Schubkarren Bauschutt und Erde.
Nicht viel anders werden Erdfälle auch offiziell behandelt: "Die kleineren werden zugeschüttet und das war's dann auch meistens", sagt Herold. Meistens - aber eben nicht immer.
Probleme in Eisleben
Die Lutherstadt Eisleben ist ein Beispiel dafür, dass besagte Erdabsenkungen die Stadtoberen jahrzehntelang beschäftigen können. Infolge der Flutung der Schächte des einstigen Kupferschieferbergbaus in der Mansfelder Mulde in den 1960er und 1970er Jahren verstärkten sich die Auslaugungsprozesse in Salzschichten unterhalb der Lutherstadt, die schon Ende des 19. Jahrhunderts erheblich waren. Bis zu drei Meter sackte mitten in der Stadt der Erdboden ab. Die Prozesse haben sich - nach einer Beschleunigung in den 1970er und 1980er Jahren - zwar verlangsamt, doch die Schäden gehen in die Millionen. Dutzende Häuser in Eisleben wurden so unbewohnbar. Sichtbarstes Zeichen der Senkungen ist der mitten in der Stadt gelegene Stiftsteich, der schrittweise immer größer wird.
Im Stadtteil Neckendorf wiederum zwang ein Erdfall gar zu Verlegung der Bundesstraße 180. Nach mehreren Erdfällen neben und unter der Straße Ende der 1980er und 1990er Jahre wurde die Straße zunächst mit speziellen Geotextilien gesichert. Damit sollten schlagartige Senkungsprozesse verhindert und die Sicherheit auf der Straße vorübergehend gewährleistet werden. Zudem sollte ein elektronisches System vor weiteren Senkungen warnen.
Als die Straße 2001 erneut wegsackte, schlug das System allerdings keinen Alarm - ein Elektriker hatte vergessen, es nach Wartungsarbeiten wieder einzuschalten. Inzwischen wurden auch die Versuche aufgegeben, die sich auftuenden Löcher immer wieder zu verfüllen. "Das wird auf Dauer einfach zu teuer", betont Geologe Herold. Doch nicht nur das: Erst vor wenigen Tagen sackte nördlich von Eisleben die Straße nach Oberrißdorf weg. Sie liegt genau auf zwei Spaltenzonen - der Oberrißdorfer und der Unterrißdorfer Senke. Risse im Erdreich bei Ober- und Unterrißdorf: Nomen est omen.
Kein Ende absehbar
Die Fälle im Mansfeldischen zeigen, dass ein Ende der unterirdischen Aktivitäten nicht abzusehen ist. Und auch im Fall des Arendsees dauern die Lösungs- und Senkungsvorgänge bis heute an - zur letzten urkundlich verbürgten großen Senkung kam es am 25. November 1685: Damals verschwanden Teile des südlichen Ufers in den Fluten des Sees und rissen dabei die Mühle des Dorfes Arendsee samt Müller und Müllerin mit, schreibt der damalige Arendseeer Amtmann Albrecht Ludwig Walter. Der Arendsee erreicht seine heutige Größe von fünf Quadratkilometer. Das Mühlrad der Mühle und vermutlich Teile einer gepflasterten Straße unweit des Sees werden in den 1990er Jahren von Hobbytauchern entdeckt.
Spätsommerliche Badegäste müssen sich allerdings keine Sorgen machen, plötzlich den Strand unter den Füßen zu verlieren. Die Auslaugungsprozesse verlaufen derzeit sehr langsam, erklärt Ehling. Ob sich das wieder ändert, vermag aber niemand zu sagen.
Die nächste Folge: Berggeister in Lebensgefahr