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Betreuung Betreuung: Gefesselt im Heim

Von Mira Gajevic 10.12.2012, 20:25

Georgenthal/MZ. - Die alte demente Frau würde gerne laufen, aber sie darf nicht. Ein Tisch an ihrem Rollstuhl verhindert, dass sie aufsteht. Wenn sie im Fernsehsessel sitzt, hält ein Gurt sie fest. Nachts schläft sie in einem Bett mit Gitter. Antje Prinz, Pflegerin in dem Heim im thüringischen Georgenthal, war entsetzt. Nicht nur über den Umgang mit der alten Frau. Sondern auch über ihren Eindruck, dass in dem mit der Note sehr gut ausgezeichneten Pflegeheim jeder demenzkranke Bewohner gewohnheitsmäßig, wie Prinz sagt, daran gehindert wurde, sich frei zu bewegen. Fassungslos war sie, als ihr keine einzige richterliche Genehmigung für die Fixierungen vorgelegt wurde. Dabei ist jede Fesselung, jeder Bauchgurt und jedes Bettgitter gegen den Willen des Betroffenen Freiheitsberaubung, deshalb müssen Richter sie genehmigen.

"Von den 19 betagten Pflegebedürftigen auf der Station, die meisten dement, wurden 16 täglich fixiert, einige von ihnen nach meinem Eindruck schon seit Jahren", behauptet die 43-Jährige, die als Honorarkraft in dem Heim arbeitete und auch Dozentin für Pflege- und Betreuungsberufe ist. Als sie Zeugin wurde, wie eine Pflegerin immer wieder Bewohner beschimpfte und schlug, informierte sie die Geschäftsleitung des Heims und erstattete im Februar 2011 Anzeige bei der Polizei.

Strafbefehl gegen Pflegerin

Der gewalttätigen Pflegerin wurde gekündigt, sie bekam nach Informationen von Antje Prinz zudem einen Strafbefehl und arbeitet jetzt in einem Krankenhaus. Die Ermittlungen gegen die Heimleitung wegen Freiheitsberaubung wurden dagegen vor wenigen Wochen eingestellt. Über die Begründung der Staatsanwaltschaft für die Einstellung des Verfahrens schüttelt Antje Prinz noch heute mit dem Kopf. So heißt es in dem Schreiben, dass eine richterliche Genehmigung nicht notwendig sei, "wenn der Betreute selbst oder ein von ihm Bevollmächtigter oder amtlich bestellter Betreuer in die Maßnahme wirksam eingewilligt hat". Auch ist die Staatsanwältin davon überzeugt, dass es keinen richterlichen Beschluss braucht, wenn das Bettgitter von der schwer dementen Frau toleriert werde oder nur vor Verletzungen schützen soll.

Ein Fehlverhalten des Heimes kann die Staatsanwältin schon deshalb nicht erkennen, weil die zuständige Betreuungsrichterin in Gotha jeden Fall geprüft und eine Genehmigung nicht für nötig gehalten habe. Dabei ist die Rechtslage eindeutig. Erst im Juli hatte der Bundesgerichtshof noch einmal festgestellt, dass ein Gericht eine regelmäßige Fixierung immer genehmigen muss. Dies gilt selbst dann, wenn ein Angehöriger als Betreuungsperson eine Vorsorgevollmacht habe.

John Gelübcke, Betreuungsrichter in Hamburg, hat eine Mission. Seit Jahren versucht er, Heime von den Alternativen zur Fixierung zu überzeugen. Er hat kein Verständnis für die vielen freiheitsentziehenden Maßnahmen in Altenheimen, die täglich von deutschen Gerichten genehmigt werden. "Wenn davon gesprochen wird, dass ein Mensch die Fixierung toleriert, ist das hanebüchen. Von Gewalt muss man auch dann sprechen, wenn Widerstand als zwecklos angesehen wird und sich ein alter Mensch deshalb nicht gegen seine Fesselung wehrt", empört er sich.

Fixiert sein bedeutet, sich nachts im Bett nicht umdrehen, die Beine anwinkeln oder einfach nur kratzen zu können. Die Folgen können dramatisch sein. Die Betroffenen legen sich wund, weil sie sich nicht mehr richtig bewegen können, sie werden depressiv, für manche ist die Fixierung sogar tödlich. John Gelübcke hat einen einfachen Rat an jeden Verantwortlichen in einem Pflegeheim, bei den Behörden oder im Gericht. "Jeder müsste sich mal selbst fragen, wie er sich sein Alter vorstellt. Angeschnallt im Bett? In einem Rollstuhl, damit ich nicht laufen kann?"

Der Betreuungsrichter steht unmittelbar vor dem Ruhestand, doch es packt ihn noch immer, wenn er die Gleichgültigkeit sieht, mit der Bettgitter oder Bauchgurte zur vermeintlichen Vorbeugung von Stürzen eingesetzt werden. Zwangsfürsorge sagen Juristen dazu. Dabei gibt es Alternativen zu den Gurten wie niedrigschwellige Betten oder einfach nur Matratzen auf dem Boden. Elektronische Weglaufschutzsysteme verhindern, dass sich an Demenz erkrankte Bewohner unbemerkt entfernen. "Es gibt unverständlicherweise immer noch viele Menschen, die es normal finden, wenn jemand gegen seinen Willen ruhig gestellt wird."

Für Uwe Brucker, Fachgebietsleiter für Pflegerische Versorgung beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), ist die Einstellung der Ermittlungen und die Begründung ein Beispiel für Altersdiskriminierung: "Ich glaube, der eigentliche Grund für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft wie der Richterin ist ein tiefes Unverständnis für die Notwendigkeiten und Bedürfnisse alter, kranker und kognitiv eingeschränkter Menschen."

Auf ärztliche Anordnung

Die zuständige Heimaufsicht in Weimar wiederum sieht kein Versäumnis ihrerseits. "Wir haben das geprüft und aus unserer Sicht lagen rechtlich die Voraussetzungen für die Fixierungen vor. Rechtlich gab es da nichts zu beanstanden", sagt der Sprecher der Behörde, Uwe Koch. Schließlich habe die Richterin jeden Fall kontrolliert. Auch das Heim beruft sich auf die Richterin. Die "vorgenommenen Fixierungen beruhen in der Regel auf ärztlicher Anordnung und in jedem Fall auf vorheriger Überprüfung durch das Amtsgericht Gotha", heißt es in einem Schreiben des Anwalts des Pflegeheims.

Antje Prinz hat gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens Beschwerde eingelegt. Dass sie die Anzeige erstattet hat, bereut sie keine Sekunde. "Ich bereue es eher, so lange hingeschaut und nichts dagegen unternommen zu haben." Sie arbeitet heute in der ambulanten häuslichen Pflege. Ein Heim kommt für sie nicht mehr in Frage.