1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Bergbau: Bergbau: Schicht im Schacht in Sangerhausen

Bergbau Bergbau: Schicht im Schacht in Sangerhausen

Von HENDRIK KRANERT-RYDZY 06.08.2010, 17:43

Halle/MZ. - Es war wie immer im Aufgang zu den Kauen. Schlaftrunken und durchgerüttelt von der nahezu einstündigen Fahrt im "Ikarus" umfing einen dieser stete, dicke Mantel aus warmer, mit Zigarettenrauch, Staub, und Mansfelder Sprachgewirr geschwängerte Luft. Dienstagmorgen, 23. Juni 1990, kurz vor halb sechs, Bernhard-Koenen-Schacht Niederröblingen. Wenig später in der Schwarzkaue, da, wo man nur mit Badelatschen, Frühstücksbrot und Trinkflasche bekleidet hinklapperte, um in die Arbeitsklamotten zu steigen, war es jedoch ungewöhnlich leer. Ich kam nur bis zur Lampenstube. "Wo wissten hin?", schnodderte mich einer aus der Nachtschicht an. Blöde Frage, runter. "Kannste verjessen, mir jehn streiken."

Am Tag zuvor war Willy Benne, noch Chef der Gewerkschaftsleitung und wenige Tage später Betriebsratsvorsitzender, in Berlin beim Ministerium gewesen. Die Ansage dort war eindeutig und unmissverständlich: Am 30. September ist im Sangerhäuser Revier Schluss. "Ich habe protestiert und gefordert, dass wenigstens die 92er Variante zum Tragen kommt", erinnert sich Benne, heute 73, an die hitzigsten Tage in seinem Leben. Die 92er Variante war ein Plan der DDR-Staatsführung, die drei Schächte rund um Sangerhausen 1992 dicht zu machen. Ein anderer hatte das Jahr 1995 zum Ziel.

Doch gerade in Niederröblingen und Nienstedt hatte man selbst das nicht für möglich gehalten. Das Werk Kupferbergbau war zwar administrativ ein Teil des Mansfeld Kombinates, doch auf den Schachtanlagen wurde ganz unterschiedlich gekämpft.

"In Niederröblingen haben sie gedacht, es geht immer weiter", erinnert sich Erich Hartung, der damals in der Betriebsleitung des Thomas-Müntzer-Schachtes arbeitete. Dort war die Lage anders: "Wir wussten, dass es zu Ende geht, es gab bereits 1989 einen Sozialplan, die ersten Kollegen haben den Schacht verlassen." Es gab großzügige Abfindungen und Umschulungsangebote. Denn anders als in den beiden weiter südlich gelegenen Schachtanlagen war der direkt am Harzrand gelegene Sangerhäuser Schacht immer ein Sorgenkind der Bergleute. Die Lagerstätte war extrem gestört, aus jeder Ritze sickerte das Wasser.

1988, wir hatte gerade mit der Ausbildung angefangen, wurde das Lehrrevier aufgelöst - es lag in jenem Feld der Grube, das wenig später "abgeworfen" wurde. Der Bergmannsjargon verklausuliert, dass das Feld schlicht nicht mehr zu halten war und absoff. Die ganze Schachtanlage glich einem Küchensieb, der Aufwand für die Wasserhaltung war ein Grund dafür, dass die Kupferproduktion jedes Jahr deutlich mehr Geld verschlang, als sich damit verdienen ließ. Das hatten sogar die Planwirtschaftler der DDR begriffen.

Als Benne an jenem 22. Juni auf der Rückfahrt von Berlin nach Niederröblingen ist, hört er bereits im Autoradio, was er seinen Leuten eigentlich hatte selber erzählen wollen. "Entsprechend gereizt war die Stimmung, als ich wieder auf dem Schacht war", sagt Benne. Am Nachmittag wurden Mittags- und Teile der Frühschicht informiert - die Veranstaltung ging bis abends um sechs. Vereinzelt wurden Rufe laut, die Werksleitung aus dem Fenster zu stürzen - "der Geschäftsführer ging, da stand ich dann", erzählt Benne. Am Ende des Tages wurde ein Streikkomitee gebildet, doch dessen Job war Dienstagmittag schon erledigt. "Gegen wen sollten wir denn auch streiken", fragte sich nicht nur Benne. Ziemlich schnell war klar: "Wir arbeiten nicht mehr bis 30. September, wir machen am 10. August Schuss." Wozu auch weiter Schiefern schippen, wenn die nur auf der Halde landeten? "Die Rohhütte in Helbra produzierte doch da schon nicht mehr", sagt Hartung, heute Chef des Bergbaumuseums Röhrigschacht Wettelrode. Jetzt ging es vielmehr darum, den geordneten Abgang zu organisieren. Für die Kumpel ging es um Abfindungen, für mehrere hundert Lehrlinge darum, ihre Berufsausbildung zu Ende zu bringen. Denn letztere wollte das inzwischen in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Kombinat gleich mit dem Ende der Schächte entsorgen. Während dem Personalchef mit Streikdrohungen eine Lösung für die Lehrausbildung abgetrotzt wurde, reiste Benne mehrmals die Woche nach Berlin, um über die Abfindungen zu verhandeln.

Am Ende garantierte die inzwischen verstorbene Arbeitsministerin Regine Hildeberandt (SPD) dafür, dass 67 Millionen D-Mark bereitstanden. Als Benne das am 27. Juli verkündet, brandet Beifall durch die Kantine. Benne versteht die Welt nicht mehr: "Die wissen gar nicht, was sie sich antun", diktiert er einem Journalisten in den Block. Die letzte Schicht wird in Niederröblingen und Nienstedt bereits am 9. August gefahren, in Sangerhausen einen Tag später.

Viele der 4 700 Bergleute hatten wohl gedacht, mit den im Schnitt 15 000 Mark Abfindung die Zeit bis zum nächsten Job überbrücken zu können. Doch daraus wurde nichts: Bis heute ist der Strukturwandel in der Region nicht abgeschlossen, ist die Arbeitslosenquote die höchste Sachsen-Anhalts.

Der Autor gehörte der letzten Klasse von "Facharbeitern für Bergbautechnologie mit Abitur" an.