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Atomenergie Atomenergie: Der lange Abschied vom AKW Rheinsberg

Von Steffen Könau 25.07.2012, 18:23

Rheinsberg/MZ. - Das Ende kam plötzlich, aber nicht ganz unerwartet. Mitten in der Verlängerung war Schluss, erinnert sich Jörg Möller. "Regulär wären wir schon 1986 runtergefahren, aber dann wurde der Betrieb noch einmal bis 1991 weitergenehmigt." Die notorisch unter Strommangel leidende DDR konnte auch ein Vierteljahrhundert nach der Inbetriebnahme ihres ersten Atomkraftwerkes nicht auf die Elektroenergie verzichten, die seit 1966 rund 80 Kilometer nördlich von Berlin tief in einem Wald versteckt erzeugt wurde.

Erst mit dem Mauerfall ging dann alles ganz schnell. Der Betriebsteil Rheinsberg des VEB Kernkraftwerk "Bruno Leuschner" wurde Knall auf Fall stillgelegt. Ohne große Vorankündigung, ohne auch nur den Versuch zu machen, die noch geltende DDR-Betriebsgenehmigung auszuschöpfen. 23 Jahre hat das Kernkraftwerk Strom erzeugt. Seit fast 23 Jahren arbeiten Projektleiter Jörg Möller und seine Männer nun schon daran, die Atomanlage wieder verschwinden zu lassen.

Glaube an goldene Zukunft

Möller hat schon in der riesigen Doppelhalle mit den heute antik wirkenden wuchtigen Schaltern und Anzeigetafeln aus sowjetischer Produktion gearbeitet, als hier noch genug Strom für eine Stadt wie Cottbus produziert wurde. Die Anfänge der Atomindustrie in der dünn besiedelten Gegend, von der Fontane im "Stechlin" schwärmte, "waren ganz anders, als wir uns das heute vorstellen", sagt der Mann mit dem angegrauten Vollbart. Nicht die Angst vor der Atomenergie habe die Menschen ringsum umgetrieben, als die DDR-Staatsführung den Beschluss zum Bau des russischen Druckwasserreaktors vom Typ WWER-2 Ende der 50er Jahre fällte. "Atom war damals nicht böse, sondern Hoch-Technologie, die Frieden, Wohlstand und eine goldene Zukunft versprach."

Für eine Ackerbürgerstadt wie Rheinsberg glich der Baubeginn der Anlage, die einer großen hohen Lagerhalle ähnelt, einer Revolution. "Es zogen Leute zu, es gab Arbeit, Schulen, Kultur, Sport und neue Wohngebiete." Proteste gegen die gefährliche Industrie habe es nie gegeben. "Wir hatten hier immer eine hohe Akzeptanz", beschreibt Möller, der selbst in Rheinsberg wohnt.

Angst um den Job

Die Angst kam erst, als nach dem Mauerfall die Entscheidung zum Herunterfahren des Reaktors fiel. "Wir haben geglaubt, wir verlieren unsere Arbeit", sagt Möller, der in Magdeburg studiert hat und im KKW als Konstrukteur anfing. Zwei Jahrzehnte später aber ist Möller immer noch da, ebenso wie 130 der einst 680 Mitarbeiter.

Denn es ist ein langer Abschied von der Zukunft, an dem die in der Wendezeit eigens gegründete Abwicklungsgesellschaft Energiewerke Nord (EWN) arbeitet. "Die ersten fünf Jahre haben wir nur geplant und Genehmigungsanträge gestellt." Vorbilder, an denen die Mannschaft des Kraftwerks sich orientieren konnte, gab es nicht - ebensowenig wie Gelegenheit zum Üben. "Das Unternehmen hier war von Anfang an eine Premiere", sagt Möller.

Nirgendwo sonst auf der Welt hat eine Kraftwerksmannschaft bisher ein kommerzielles KKW selbst "zurückgebaut", wie es im Bürokratendeutsch steif heißt. "Der Berg unserer Genehmigungsformulare ist am Ende sicher genauso hoch wie unser Berg Schrott." 533 Räume hat die mit 70 Megawatt Leistung vergleichsweise kleine Atomfabrik. 532 davon, sagt Möller, seien kontaminiert gewesen. Einer - nämlich der Reaktor selbst - sei, was die Experten "aktiviert" nennen. "Kontaminierte Räume lassen sich säubern, aktivierte aber strahlen." Kein Herankommen an das Herzstück der elf Meter hohen Röhre, in der früher die Brennstäbe den Dampf erhitzten, der die Turbine antrieb.

In anderen Fällen hat sich die Abrissmannschaft etwas einfallen lassen. "Wir haben Sägen gebaut, die um Rohre gespannt wurden", erzählt Jörg Möller, "und mit Plasmabrennern unter Wasser gearbeitet". Als gelernter Konstrukteur habe er die neue Arbeit im alten Werk schnell schätzen gelernt. "Ein Kernkraftwerk zu fahren, ist ja relativ langweilig", sagt Möller, "einmal im Jahr Brennstäbe wechseln, dann läuft das wieder zwölf Monate". Die Demontage dagegen bringe jeden Tag neue Herausforderungen: "Wer heute eine Bandsäge sucht, findet 120 Hersteller", schmunzelt der Maschinenbauer, "aber finde mal eine, die unter Wasser funktioniert und auch noch fernbedienbar ist". So etwas wurde hier dauernd gebraucht, um in den heißen Bereichen zu arbeiten. "Weil man zum Nachgucken ja nicht rein kann."

Ab ins Zwischenlager

Und kleingeschnitten werden müssen die Innereien der Anlage, damit sie in Standard-Schutzbehälter verpackt ins Zwischenlager nach Lubmin gebracht werden können. Vier Castor-Transporte mit den hochradioaktiven Teilen gingen schon vor elf Jahren auf die Reise, inzwischen folgte auch der 160 Tonnen schwere Reaktor - und das in einem Stück. "Wir haben ihn ferngesteuert herausgehoben und auf einen Sattelschlepper gelegt." Auf dem wartete bereits eine Schutzmanschette, die die Strahlung aus dem aktivierten Bereich abschirmen sollte. Mehr als ein Jahr Vorbereitung und minutiöse Planung brauchte allein dieses Unternehmen. Aber alles klappte haargenau wie geplant. Der Stolz ist Jörg Möller anzumerken. "Das Ganze liegt jetzt im Zwischenlager." Dort klinge die Radioaktivität ab. "Weil es sich dabei um Kobalt 60 handelt, das eine kurze Halbwertszeit hat, wird man in etwa 50 Jahren hingehen und das Teil in Handarbeit zerschneiden können."

Nach 23 Jahren Abriss sind aus Rheinsberg 99 Prozent der radioaktiven Stoffe verschwunden. Auch das Endlager für Atommüll, das die DDR-Führung in einer Grube am Rand des Geländes hatte errichten lassen, ist geräumt. Aus den Angestellten der EWN, die seinerzeit gründet worden war, um sich selbst abzuschaffen, sind währenddessen Atomabriss-Spezialisten geworden, wie es nur wenige gibt.

Nicht erst seit Fukushima und Energiewende sind die Kompetenzen der Brandenburger weltweit gefragt. "Wir haben Aufträge in Bulgarien, in der Slowakei und im baden-würtembergischen KKW Obrigheim", sagt Möller. In Murmansk helfen EWN-Monteure derzeit, 120 Atom-U-Boote zu zerlegen. Demnächst soll ein Auftrag aus Tschernobyl reinkommen. "Es gibt einen Boom beim Rückbau", sagt Möller, "und der wird in Zukunft noch viel heftiger werden". Der Finanzminister, einziger Gesellschafter des Unternehmens, hat längst reagiert: Das Ziel, sich selbst zu liquidieren, ist keine Vorgabe mehr.

In Rheinsberg indes nähern sich die Arbeiten ihrem Ende. Noch zwei Jahre wird im Reaktorsaal geschraubt, gebrannt und ausgebaut, dann ist Schluss. Nach 25 Jahren Demontage wird das KKW aus der "atomrechtlichen Genehmigung" entlassen werden. Die Gebäudehülle allerdings bleibt weiter stehen, denn der endgültige Abschied vom Atom ist noch fern: In den Wänden stecken radioaktive Isotope, die keinen Grenzwert überschreiten. Aber ein Abriss in weiteren 50 Jahren wird einfach billiger.

Die KKW in Rheinsberg und in Greifswald können besichtigt werden.