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Arbeitsagentur Arbeitsagentur: Die Vergessenen des Aufschwungs

Von STEFFEN KÖNAU 05.11.2010, 16:50

Halle (Saale)/MZ. - Wenn er an diese Geschichte denkt, wird Rainer Jahn immer noch fuchtig. Als ob er so einer wäre! "Faul und was weiß ich." Ist er nicht. Nie gewesen. "Ich habe immer gearbeitet", sagt der 34-jährige Hallenser, "egal, als was." Nur deshalb ist er damals ja auf diesen Fernsehsender reingefallen. Der versprach Hilfe bei der Jobsuche. Jahns Familie müsse sich dafür nur von der Kamera begleiten lassen, auf dem Weg zur neuen Anstellung.

Rainer Jahn hat jede Minute bereut. "Das war nichts", sagt er, "meist hatten die Firmen gar kein Interesse." Nur ein Stellenangebot war konkret. Doch für den Job sollte Jahn mal eben nach Erfurt umziehen. "Da wär' dann die halbe Familie hier und die andere Hälfte dort gewesen." Nee, sagt er, "das kommt ja nicht infrage".

So passt es oft nicht auf dem Arbeitsmarkt, der im Jahr zwei nach der Krise Superlative produziert, als habe es die Angst vor dem Untergang der Marktwirtschaft nie gegeben. Niedrigster Stand der Arbeitslosenquote seit 1992, halbierte Zahl der Arbeitslosen seit 2006, Firmen, die nach Bewerbern suchen, Bewerber, die keineswegs mehr bereit sind, das erstbeste Angebot anzunehmen. "Wer was kann", sagt Jan Kaltofen, der bei der Agentur für Arbeit in Halle das operative Geschäft führt, "kann sich manchmal schon aussuchen, wo er anfängt."

"Es muss hier niemand mehr fortgehen", glaubt auch Jürgen Krause, der für die Arbeitsagentur über Land fährt, um Interessenten dabei zu helfen, eine Stelle im Ausland zu finden. Fünf Dutzend offene Koch-Stellen gibt es allein in Österreich, deutsche Einschaler werden in Holland mit Kusshand genommen. Marie Neumann und Jennifer Schicht dagegen könnten auch in Deutschland eine Stelle finden. Die Lehre als Physiotherapeutinnen haben beide gerade beendet, eine Festanstellung wäre nur eine Unterschrift weit weg. "Doch man kann von dem, was hier gezahlt wird, nicht leben", rechnet Jennifer Schicht vor. Mit 23, ist sie sicher, muss das Leben aber noch mehr sein als irgendwie durchkommen. "Deshalb suche ich jetzt eben in Spanien." Deshalb plant Marie Neumann ein Leben in der Schweiz. Und deshalb guckt Ulrike Jacobi, ob Norwegen nicht noch eine gute Restaurantfachfrau brauchen kann.

Es wird eng auf dem Arbeitsmarkt, allerdings ganz anders eng als bisher. Die Dynamischen sitzen in der Auswandererberatung bei Jürgen Krause und hören nur mit einem Ohr zu, wenn der darauf hinweist, "dass wir in drei Jahren Arbeitskräftemangel haben werden". Schon heute sieht Jan Kaltofen einen tiefen Riss inmitten der Menschen, die bei der Agentur seit einiger Zeit nur noch "Kunden" genannt werden. Auf der einen Seite sind da die 20 Prozent der Leichtvermittelbaren, meist jung, immer qualifiziert, flexibel und leistungsbereit. Gegenüber dagegen warten Menschen mit Einstellungshindernissen: Ohne gefragte Qualifizierung, alleinstehend mit Kind oder langzeitarbeitslos.

Es sind Leute wie Rainer Jahn, die gern wollen würden. Wenn die Umstände stimmen. In seinem letzten Job, sagt Jahn, sei er jeden Tag bis nach Köthen gefahren. Solange ihm das Fahrgeld ersetzt wurde. "Danach nicht mehr, weil ich dann mit Arbeit 100 Euro weniger gehabt hätte als ohne."

Jedes Schicksal ist anders, jeder Fall muss auf seine Weise bearbeitet werden. Sechs Jahre nach den großen Arbeitsamtsskandalen wissen sie das auch bei der Nachfolgebehörde, die alles tut, um nicht mehr wie eine zu wirken. Aus dem bürokratischen Monster sei ein modernes Dienstleistungsunternehmen geworden, versichert Kaltofen. Die Schlangen auf den Fluren sind fort. Wer kommt, hat einen Termin. Wer wartet, soll das nur 13 Minuten tun müssen. Es gehe ja nicht um Verwaltung, sondern darum "Bewerber und offene Stellen zusammenzubringen", sagt Jan Kaltofen.

"Matching" heißt das im Vermittlersprech. "Matching" ist kein Puzzle, das vom Himmel fällt und gleich ein Bild ergibt. Was nicht passt, muss passend gemacht werden. Und sei es, dass die Agentur hilft, neue Stellen erst zu schaffen, wie im Fall von Cornelia Heidrich. Vor sechs Jahren gründete die Bitterfelderin mit Hilfe des Arbeitgeberservice der Agentur ein eigenes Pflegeunternehmen. "Ein Mitarbeiter, ein Patient, so fing's an", sagt die 47-Jährige. Zwar habe sie Berufserfahrung gehabt, "aber weiß ich, wie man Personalgespräche führt?". Da half dann die Agentur, die auch Überbrückungsgeld zahlte, bis die neue Firma lief. "Dafür bin ich heute noch dankbar", sagt Cornelia Heidrich. Die Agentur ist es auch, denn Heidrich beschäftigt inzwischen hundert Mitarbeiter. Ein Treffer, wie ihn auch Martin Gauter nicht alle Tage landet. Aber gerade Kleinvieh macht Mist in seinem Metier: Gauter ist einer der Agentur-Spezialisten vom Arbeitgeberservice, die versuchen, draußen im Gespräch mit Firmenchefs Möglichkeiten zur Schaffung neuer Stellen auszuloten. Gauter, der beim alten Arbeitsamt gelernt und die Wandlung der Behörde vom ersten Tag an mitgemacht hat, geht ungewöhnliche Wege. Der Mann in Jeans und mit lockerem Schal ist kein Beamter, sondern eine Art Job-Lobbyist mit Netzwerktalent. Er plaudert hier, er schwatzt dort, berät da und klopft hier mal auf den Busch, wie es steht, vielleicht nächstes Jahr mit einem Lehrling mehr? Basisarbeit, die niemand sieht, der nur den Arbeitsmarktbericht anschaut.

Martin Gauter hat Spaß an seinem Job. Eine Kooperation mit dem Eishockeyclub Saalebulls hat der 24-Jährige zuletzt angestoßen. Vordergründig, um die jungen Leute im Fanblock für die Chancen zu begeistern, die ein Ausbildungsmarkt bietet, auf dem Firmenchefs zum Teil händeringend nach Lehrlingen suchen. Im Hinterkopf aber hat Gauter, bis zu einer schweren Verletzung Fußballer in der Landesauswahl, viel mehr. "Ich will Vertrauen in den Chefzimmern aufbauen", sagt er, "das erweitert die Möglichkeiten für alle."

Bei Carsten Funke ist Martin Gauter da schon am Ziel. Als dessen Firma Expert neulich beschloss, einen Markt in Halle zu eröffnen, war der Arbeitgeberservice-Mann über Wochen wichtigster Expert-Mitarbeiter vor Ort. "Wir haben Bewerber gesucht, Räume gestellt und bei der Einstellung geholfen", beschreibt Gauter. 25 Mal "matchten" Stellen und Schicksale, auch weil die Agentur in der Einarbeitungszeit Reisekosten übernahm. Derzeit plant Carsten Funke den nächsten Markt in der Region. "Auf jeden Fall mit Hilfe der Agentur."

Die hat den kommenden Aufschwung schon gespürt, als der Himmel draußen noch voller Konjunkturwolken hing. "Irgendwann im Frühjahr", erinnert sich Martin Gauter, "hörten die Anrufe mit der Frage auf, wie man Kurzarbeit anmeldet." Stattdessen klingelte das Telefon öfter, weil Unternehmer Kurzarbeit verkürzen wollten. "Schließlich ging es damit los, dass neue Stellen zu besetzen waren." Wunderbare Zeiten für einen wie Martin Gauter, der eine gelungene Vermittlung feiert wie früher die Tore auf dem Fußballplatz. "Das Gefühl, jemandem zu einer Stelle verholfen zu haben", sagt Gauter, "ist das Größte."

Natürlich, bis heute reichen die Jobs trotzdem nicht für alle. Auch nach einer Halbierung der Quote zählt die Agentur für Arbeit, zuständig für Halle und die Ex-Kreise Bitterfeld und Saalkreis, noch 23 000 Arbeitslose. Fast 8 000 von ihnen sind länger als ein Jahr auf der Straße. Offene Stellen in der Region dagegen spuckt die Datenbank der Agentur nur 1 800 aus - für Andreas Ehrholdt der Beweis, "dass wir belogen und betrogen werden". Vor sechs Jahren stand der 47-Jährige aus der Altmark an der Spitze der Hartz IV-Proteste. Heute sieht er sich bestätigt. "Das diente alles nur dazu, die Statistik zu bereinigen", glaubt er. Auch Ehrholdt selbst ist als Erwerbsminderungs-Rentner nicht mehr mitgezählt. Das hindert ihn nicht, die Berichte über Aufschwung und Arbeitskräftemangel grantig zu kommentieren. Schwindel, sagt er. Aber die Leute hätten es ja nicht anders verdient. "Damals sind ja nicht die Betroffenen auf die Straße gegangen, sondern die, die Angst hatten, Betroffene zu werden." Nicht Millionen hätten so protestiert, sondern nur Hunderttausende. "Die Leute haben sich selbst verraten", denkt Ehrholdt, der bis heute rätselt, warum. "Weil es ihnen noch zu gut geht?"

Längst kämpft jeder für sich allein. Leute wie Rainer Jahn, zuletzt mit einem Staplerlehrgang versorgt, hoffen auf einen Job "zu vernünftigen Konditionen" (Jahn). Nicht als Staplerfahrer freilich, denn inzwischen hat sich herausgestellt, dass medizinische Gründe das nicht zulassen. Auswanderungs-Berater Jürgen Krause rechnet seinen Kunden derweil vor, dass es nicht reicht, Norwegen total schön zu finden. "Man sollte auch die Sprache sprechen." Für den Freund dagegen finde sich dort mit Sicherheit ein Job. Wäre er Koch und wollte er nach Österreich, könnte er sich gleich bei Arbeitgebern von dort vorstellen, die regelmäßig nach Sachsen-Anhalt kommen. "Das spart den Bewerbern die weite Anreise."

Der Wettbewerb um fähige Mitarbeiter ist inzwischen global, der ehemals einheitliche Arbeitsmarkt in zwei Hälften geteilt. Hier konkurrieren gering qualifizierte wie Rainer Jahn um wenige, schlecht bezahlte Jobs. Dort hakeln Unternehmen mit der ganzen Welt um Spezialisten. Die Gesellschaft wird älter, es wachsen weniger Bewerber nach. Flexibilität ist manchmal heute schon gefragt, sagt Martin Gauter: "Altenpfleger ist ein Beruf, wo wir die Hände heben müssten." Stattdessen aber klingelt er dann doch lieber die Krankenschwestern in der Datenbank durch: "Könnten Sie sich auch vorstellen, vielleicht Altenpflege zu machen?"

Alte sind ein Wachstumsmarkt im Land der Rentner, das seine jungen Leute jahrelang exportiert hat. Ein Trend, der sich nicht umkehrt, nur weil es jetzt genug Lehrstellen gibt. So fehle es nun bisweilen an Bewerbern, sagt Hans Jürgen Höllriegel. "Die wir haben, bringen oft nicht die Voraussetzungen mit." Seit 40 Jahren begleitet der Hallenser Menschen ins Berufsleben. Noch nie zuvor aber hat er sich so viele Sorgen gemacht um eine junge Generation. "Sie sind keine Kinder mehr, wie wir es waren, als wir lernten", beschreibt er. Lehrlinge hätten heute Familie, Kinder, Verpflichtungen. Gleichzeitig aber seien viele kaum aufs Leben vorbereitet. "Die wollen Koch werden, weil sie im Fernsehen jemanden schick kochen sehen haben", schüttelt Höllriegel den Kopf. "Und dann staunen sie, dass man Töpfe putzen muss."

Für den Hallenser, der als Fachbuchautor Standards für die Ausbildung in ganz Deutschland setzt, ein Zeichen für das Versagen von Elternhäusern. "Ich denke manchmal, es wird Kindern nicht mehr geholfen, ihre eigenen Träume zu entwickeln", sinniert er. Ausnahmen aber finden sich überall: Der Langzeitarbeitslose Rainer Jahn ist mit Blick auf seine Familie ganz zufrieden. Sohn David lernt Schlosser, Tochter Nicole Altenpflegerin und Lisa will nach dem Abi Augenoptikerin werden. Auf ihn selbst wartet ab Januar wohl eine Stelle in der Bürgerarbeit. Kein Schritt raus aus der Arbeitslosigkeit, nur einer aus der Arbeitslosenstatistik. Aber das ist ihm dann auch egal. "Wenns bei den Kindern läuft", sagt Rainer Jahn, "hat man alles richtig gemacht."