Anhörung im Landtag Anhörung im Landtag: Zu viele schlechte Zahlen
Magdeburg/MZ. - Bei einem Becher Eis will Sven Gratzik erstmals stutzig geworden sein. Im Sommer 2006 soll ihm sein damaliger Chef, der Vizepräsident der Polizeidirektion Dessau, Hans-Christoph Glombitza, klar gemacht haben, dass die "zu hohen" Fallzahlen im Bereich Rechtsextremismus "nur den Linken nutzen, weil dann weiter Fördermittel gezahlt werden müssen".
Gefruchtet hat die verklausulierte Bitte Glombitzas, bei den Ermittlungen einen Gang zurückzuschalten, beim Dessauer Staatsschutz-Chef Gratzik ganz offensichtlich nicht. Nach dessen Amtsantritt 2004 hatten sich die politisch motivierten Straftaten in Dessau bis 2006 verdreifacht. Ursache dafür waren nicht etwa überbordende Aktivitäten der Rechten, sondern der neue Ermittlungsdruck, der im Staatsschutz-Kommissariat in Dessau an den Tag gelegt wurde. Zuvor, so Gratzik am Montag vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages, hatten die Staatsschützer in Dessau eher ein Problem, rechte Straftaten als solche zu erkennen. Dafür seien linke Opfer schon mal abfällig als "Zecken" bezeichnet worden.
Doch Gratziks Bemühungen und die seiner neuen Kollegen wurden von der Hausspitze in Dessau nicht honoriert. Im Februar dieses Jahres legte Glombitza den drei Staatsschützern Gratzik, Swen Ennullat und Christian Kappert nahe, bei rechten Delikten "nicht so genau hinzuschauen" und Anzeigen etwas langsamer zu bearbeiten. "Ich war wie vor den Kopf geschlagen und enttäuscht", beschreibt Ennullat. Glombitza räumte am Montag ein, in der Tat darauf hingewiesen zu haben, dass "jede Medaille zwei Seiten hat", sprich durch "extensive Erfassung" rechter Kriminalität Sachsen-Anhalt in der bundesweiten Statistik nach oben schieße. Als Weisung an die Staatsschützer, weniger zu ermitteln, will er das aber nicht verstanden wissen.
Die drei Beamten verfassten im Frühjahr ein Protokoll, das zunächst in der Behördenleitung ohne Reaktion blieb. "Die drei wollten mir damit Schwierigkeiten bereiten", glaubt Glombitza bis heute. Doch nach seinem Bekanntwerden sorgte das Papier für gewaltige politische Beben. Die Dessauer Staatsschutz-Affäre war geboren. Innenminister Holger Hövelmann (SPD) sprach Glombitza - der mittlerweile im Ruhestand ist - nach einer behördeninternen Untersuchung eine Missbilligung aus.
Doch das reichte den Linken im Landtag nicht. Sie forderten einen Untersuchungsausschuss. Zunächst ging es um die Frage, ob die Dessauer Polizei auf dem rechten Auge Sehstörungen hat. Dann wurden auch in anderen Landesteilen Fälle aktenkundig, die an der Arbeit der Polizei zweifeln ließen. Jüngster Akt in der Serie polizeilicher Fehler bei Ermittlungen gegen Rechts war die neue, inzwischen wieder abgeschaffte Zählweise bei rechten Straftaten. Das kostete vor zwei Wochen den Chef des Landeskriminalamtes den Job und brachte Innenminister Holger Hövelmann (SPD) in Bedrängnis.
Seit der sechsstündigen Vernehmung Gratziks vor dem Untersuchungsausschuss ist klar: Das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. So sollen die Veränderungen der Staatsschutz-Statistik in Dessau eben nicht, wie bislang vom Innenministerium eingeräumt, nur elf "nicht strafrechtlich relevante" Fälle betreffen. Sondern mindestens 19 weitere, die nach Gratziks Erklärungen zumindest teilweise eindeutig politisch motiviert sind. "Du Negerschlampe, dein Negerkind bringe ich um", hieß es in einem Fall, der vor dem Ausschuss verlesen wurde.
Zudem, so der Vorwurf des ehemaligen Dessauer Staatsschutz-Chefs, seien 35 politisch motivierte Straftaten vom Dezember 2006 erst gar nicht in der Statistik aufgetaucht. Bereinigungen, wie sie vom Innenministerium als "normal" bezeichnet werden, kenne er nicht.