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Als Schutz vor Silvester-Knallerei Als Schutz vor Silvester-Knallerei: Besitzer fährt mit Hund über verlassene Autobahn

Von RALF BÖHME 30.12.2015, 19:06
Zu Silvester lässt es Sachsen-Anhalt krachen - wie hier in Köthen. Für 150 000 Hunde im Land ist das nicht schön. Ihre Halter helfen den Vierbeinern unterschiedlich durch die Nacht.
Zu Silvester lässt es Sachsen-Anhalt krachen - wie hier in Köthen. Für 150 000 Hunde im Land ist das nicht schön. Ihre Halter helfen den Vierbeinern unterschiedlich durch die Nacht. heiko rebsch Lizenz

Halle (saale) - Silvester. Die Nacht der Freude. Das alte Jahr wird weggefeiert, weggetanzt, weggelacht, weggetrunken. Auf dem Schkeuditzer Kreuz sind aber einzelne Autos unterwegs. Fahren die A 14 einige Kilometer rauf und wieder runter, gemächlich, mit Tempo 80 - wie ohne Ziel. Es sind Feierflüchtende, sie meiden den Lärm und suchen die Stille: aus Tierliebe. Die stundenlange Schleifenfahrt auf dem Autobahnkreuz ist die extremste Form, sein Haustier ohne Stress ins neue Jahr zu begleiten.

Denn blendende Lichteffekte, stinkender Pulverdampf, donnernde Böller mögen für die meisten Menschen eine freudige Art sein, das neue Jahr zu begrüßen. Für die etwa 150.000 Hunde in Sachsen-Anhalt ist es schrecklich.

Hunde hören nicht lauter, aber feiner. Sie können höhere und tiefere Töne besser vernehmen und sie sind in der Lage, einzelne Geräusche genau zu lokalisieren. Das ist ein Problem, wenn viele Raketen von überall her pfeifen und gleichzeitig Chinaböller dunkel krachen. Ein Hund kann seine Ohren leider nicht verschließen. Manchem reicht es, sich in einer vergleichsweise stillen Ecke zu verkriechen - andere brauchen extra Betreuung. „Die lauteste Nacht des Jahres ist für die Vierbeiner eine unkalkulierbare Bedrohung“, sagt Tierärztin Kristine Hucke.

Und schon eine Knaller-Silvesternacht kann zum Hundetrauma werden. Denn die Tiere haben ein sehr gutes Gedächtnis, wie Simone Schönherr aus Lochau (Saalekreis) sagt. Die 47-Jährige, die beim Tierschutz Halle aktiv ist, besitzt einen Hund aus zweiter Hand, Bruno. Er stammt aus der vereinseigenen Auffangstation. Aus Gründen, die Schönherr nicht mehr aufklären kann, reagiert Bruno zum Jahreswechsel extrem: Sobald es draußen knallt und raucht, ist der starke und 46 Kilogramm schwere Hütehund nur noch ein einziges Nervenbündel. Bruno, sagt Schönherr, drehe dann durch und suche in der Verzweiflung sein Heil in einem Kellerversteck. Dann sei Gassi gehen über Stunden ein Ding der Unmöglichkeit. Deshalb gebe es an diesem Tag auch nur schmale Kost, damit Bruno am Ende nicht in zusätzliche Not gerät, weil er mal muss, aber nicht kann. Dieses Mal will Schönherr ihrem flauschigen Liebling sogar erstmals ein homöopathisches Beruhigungsmittel ins Futter mischen, natürlich nur wenige Tropfen.

Hundeberaterin Cathleen Northe, die in Halle das Internetportal www.kleinstadtrevier.de betreibt und auf das Coaching von Mensch plus Hund spezialisiert ist, empfiehlt vor allem frühzeitige, individuelle Beratung. Die Ursachen für panikartige Silvester-Reaktionen, so die studierte Hunde-Therapeutin, sind äußerst vielfältig. Kleine wie große Hunde könnten betroffen sein. „Oft geht es um traumatische Erfahrungen, die später in ritualisierten Reaktionen auf den Lärm münden.“ Diese Rituale müssten aufgebrochen werden. „Je früher man das Tier auf Silvester einstellt, desto besser klappt es auch.“ Hat man einen nervösen Hund und findet nicht die richtige Lösung, können die Reaktionen der Tiere „sehr markant“ ausfallen, wie Northe formuliert. Da werde auch mal zugeschnappt. Aber auch das Gegenteil - die blanke Apathie - sei bei panischen Hunden möglich. Das äußere sich etwa in Stresshecheln und Zittern. Auch wenn Vierbeiner die Ohren anlegen und den Schwanz einziehen oder sich in der Badewanne verstecken, seien das ernste Signale, die der Besitzer nicht übersehen sollte. Dann gelte es vor allem, Ruhe zu bewahren und auszustrahlen. „Der Hund muss immer wissen, wo es lang geht - auch an der langen Leine“, rät die 33-Jährige.

Wenn diese Strategien nicht wirken, man seinem Vierbeiner auch nichts verabreichen will, geht manches Herrchen einen ungewöhnlichen Weg - oder besser: fährt. Die Panik von Hund und Herrchen endet dann auf der Autobahn. Denn in der Silvesternacht ist in der Region Halle/Leipzig das Stück der A 14 einer der ruhigsten Orte.

Der Hallenser Jürgen S. ist so ein Hundehalter in Not. Der 56-jährige leitende Angestellte schildert das Verhalten seines Tieres zu Silvester als „völlig unbeherrschbar“. Das laste auf ihm und ein bisschen geniert er sich deswegen. Ihm sei schon viel Unverständnis begegnet, dass er für einen Hund einen derartigen Aufwand betreibt. Deshalb will er auch anonym bleiben. Ihm wurde auch schon unterstellt, er schiebe den Hund vor, er wolle eigentlich selber keinen Trubel. Da widerspricht der gebürtige Niedersachse und Hundenarr vehement - sein Smartphone hat als Klingelton ein freudiges Bellen: „Ich bin kein Feier-Muffel“.

Nein, „Lucie“, so der Name seiner sensiblen Schäferhündin mit gutem Stammbaum, lasse ihm aber einfach keine Wahl. Seit vier Jahren ist sie die treue Begleiterin von Jürgen S. und sein Glück mit vier Pfoten. Allein: „An Silvester rastet das Tier aus, da bin ich machtlos.“ Nur im Auto, auf der Piste zwischen Halle und Leipzig, ist sein Liebling nett wie sonst.

Die ausgefallene Idee mit der Flucht auf die verlassene Autobahn stamme nicht von ihm. Er habe den Tipp mal bei einem Aufenthalt in Rom aufgeschnappt. Damals sei er noch ohne Hund gewesen und habe darüber gelächelt. Bis er selber die Panik-Hündin Lucie bekam. Da hat er es ausprobiert - und macht es nun jedes Jahr: Der Junggeselle verlässt mit Lucie zwei Stunden vor der größten Knallerei die Saalestadt. Und erst eine Stunde nach Mitternacht wagt sich das Duo zurück. Dazwischen wird gefahren, mit gelegentlichem Halt auf einem abgelegenen Parkplatz in der Nähe von Gröbers. Als Fahrer esse er, während in der Ferne über Halle der Himmel glüht, nur einige Weinbrandbohnen, versichert Jürgen S. Lucie nage derweil an einem schönen Knochen. Während die Welt im gemeinsamen Trubel vereint ist, sind die Beiden in der relativen Stille allein.

Zumindest vergleichsweise. Einmal in den vergangenen Jahren sei es auf dem Parkplatz zu einer zufälligen Begegnung mit jemanden gekommen, der das Schicksal teilt: Mit einem Pitbull, der Silvester immer Kreislaufprobleme bekommt. Jürgen S. spekuliert aber, dass es zumindest einige andere Betroffene gibt, denen die Autobahn als nächstgelegener stiller Ort eingefallen ist. „Ich erkenne es an den Autos, der Fahrweise.“ Alle fahren konstant 80 Kilometer pro Stunde, und das zwei, drei Stunden lang. Die Abstände zwischen den Fahrzeugen bleiben dabei annähernd gleich. Wie man eben fährt, wenn das Ziel kein Ort, sondern eine Zeit ist: Das Ende der Böllerei. Dem Hallenser sind schon ein weißer Mercedes-Kombi mit Hundebox im Kofferraum aufgefallen und ein kleiner roter Citroën mit Frau am Steuer und Collie auf dem Beifahrersitz. Er selbst steuert einen Lieferwagen. Doch nicht allein zu sein, ist ein guter Gedanke. Vielleicht wäre es gut, überlegt Jürgen S., wenn sich Betroffene gezielt austauschen würden. „Vielleicht gründe ich eine Selbsthilfegruppe.“

Die Böllerei ängstigt den Hütehund Bruno, er bekommt dann von Frauchen Simone Schönherr besonders viel Zuwendung.
Die Böllerei ängstigt den Hütehund Bruno, er bekommt dann von Frauchen Simone Schönherr besonders viel Zuwendung.
Günter Bauer Lizenz
Tiere und KnallerFür viele Haustiere bedeutet ein Silvesterfeuerwerk Stress, weil sie ein feineres Gehör haben als Menschen. Um Panikattacken infolge von Krach und Lichtblitzen vorzubeugen, sollten Hundehalter abends frühzeitig Türen und Fenster sowie die Rollläden schließen, empfiehlt Marius Tünte vom Deutschen Tierschutzbund in Bonn. Optimal sei, Vierbeiner und Kleintiere in ein ruhiges Zimmer zu bringen, das möglichst weit ab von den Lärmquellen draußen liegt. Vogelkäfige sollten mit einem Tuch bedeckt sein und nicht in Fensternähe stehen.
Tiere und KnallerFür viele Haustiere bedeutet ein Silvesterfeuerwerk Stress, weil sie ein feineres Gehör haben als Menschen. Um Panikattacken infolge von Krach und Lichtblitzen vorzubeugen, sollten Hundehalter abends frühzeitig Türen und Fenster sowie die Rollläden schließen, empfiehlt Marius Tünte vom Deutschen Tierschutzbund in Bonn. Optimal sei, Vierbeiner und Kleintiere in ein ruhiges Zimmer zu bringen, das möglichst weit ab von den Lärmquellen draußen liegt. Vogelkäfige sollten mit einem Tuch bedeckt sein und nicht in Fensternähe stehen.
dpa/Agila Lizenz