3. Dezember 1989 3. Dezember 1989: 800 DDR-Bürger stürmen Brocken-Grenze

Brocken/ddp. - Genau hier stand es: Das Tor, das Karl Berke schon lange ein Dorn im Auge war, weil es ihm und jedem anderen DDR-Bürger den Zugang zum Brocken verwehrte.
Zwanzig Jahre ist es her, da stand Berke gemeinsam mit rund 800 Menschen an einem sonnigen Wintertag genau an jener Stelle unterhalb des Brockenplateaus und forderte lautstark die Öffnung des Tores und damit Zugang zum damaligen militärischen Sperrgebiet. Karl Berke erlebte an diesem Tag, dem 3. Dezember 1989, wie viele andere auch seinen ganz persönlichen «Mauerfall» - die Ereignisse vom 9. November hatte verschlafen.
Berke war nicht der Anführer der Gruppe, doch er wurde zu einem Wortführer des Protests. Bei strahlend blauem Himmel und eisigen Temperaturen griff er nach der Ankunft am Wachposten gegen zwölf Uhr Mittag zum Megafon und skandierte «Macht das Tor auf!». Ein Foto von damals zeigt den heute 60-Jährigen inmitten der Menschenmenge. Andere waren an diesem Morgen mit Transparenten auf den Berg gezogen. „Freier Brocken, freie Bürger» lautete eine der Parolen.
Sie alle waren an diesem Sonntag einem Aufruf in der Zeitunggefolgt und wollten für die Öffnung des Brockens demonstrieren. Eine Stürmung war ursprünglich nicht vorgesehen. Von Ilsenburg am Fuße des Berges waren die Menschen um neun Uhr morgens zum Marsch auf den verschneiten Gipfel gestartet. Auf dem Marktplatz hatte es zuvor eine kurze Kundgebung gegeben, erinnert sich Michael Ermrich, der damals extra aus Wernigerode mit dem Zug angereist war. «Man sagte uns, wir könnten nicht damit rechnen, oben Zugang zu bekommen», sagt der heute56-Jährige Landrat des Landkreises Harz.
Angst vor dem, was sie oben erwarten würde, hatten die meisten der Demonstranten nicht. «Ein halbes Jahr vorher hätten die Soldatenschießen müssen», sagt Karl Berke ernst. «Aber die Luft war raus. „Nur die Stasi hat das Treiben der Demonstranten argwöhnisch beobachtet und fotografiert - und dabei offensichtlich nicht bemerkt, wie der diensthabende Meteorologe ein Bettlaken aus einem Fenster der Wetterstation gehängt hatte mit der Aufschrift «Mauer weg».
Nach ihrer Ankunft an der Mauer, die das militärische Sperrgebiet seit 1985 komplett umgeben hatte und an die heute nur noch ein angelegter Rundweg erinnert, begannen die Demonstranten mit den Militärs zu diskutieren. Auf 1142 Meter Höhe waren neben Abhörspezialisten der Stasi rund 100 russische Soldaten stationiert. „In Berlin gehen die Leute schon auf dem Kudamm spazieren. Was macht ihr noch hier?», war laut Landrat Ermrich eines der Argumente. 45Minuten und mehrere Anrufe in Berlin später willigte der diensthabende Kommandant zur allgemeinen Überraschung ein, zunächst kleine Personengruppen ins Innere der Sperrzone zu lassen. «Aber als das Tor offen war, gab es kein Halten mehr», sagt Berke mit einembreiten Grinsen.
Videoaufnahmen von damals zeigen, wie Hunderte Menschen auf das Gelände mit dem Netz aus Radar- und Abhöranlagen strömen, sich in den Armen liegen und den Schneewalzer tanzen - völlig unbehelligt von den dort stationierten Soldaten, die auch dann nicht eingriffen, alleinige Wanderer sich ein Stück vom Stacheldraht als Souvenirabknipsten. «Die waren auch froh, dass sie nicht schießen mussten“, sagt Berke, der oben auf dem Gipfel gleich ein Buch auslegte und Unterschriften seiner Mitstreiter zur Gründung des Harzclubs sammelte. Dessen Vorsitzender ist heute Landrat Ermrich.
«Nach dem Mauerfall war die Stürmung des Brockens der Punkt auf dem i», sagt Berke. Vor allem für ihn, der den Meldungen über die Ereignisse in Berlin am Abend des 9. November nur wenig Beachtung geschenkt hatte und ins Bett gegangen war. Als er am nächsten Tagrealisierte, was da geschehen war, kullerten bei ihm die Tränen, hatte er selbst doch die ganze Zeit über in unmittelbarer Nähe zur deutsch-deutschen Grenze gelebt und die Eigenheiten des DDR-Regimes miterlebt. Für sein Haus in Ilsenburg musste er bis 1972 in jedem Quartal eine neue Wohnberechtigung beantragen. Und so war der 3.Dezember 1989 für Berke sein ganz persönlicher «Mauerfall».
Gleiches gilt für Ermrich, der genau wie Berke zu DDR-Zeiten Inder Kirche engagiert war und diesen Tag zu «den bedeutendsten meines Lebens» zählt. «Der Brocken ist ein Symbolberg für die Menschen im Harz. Deshalb freue ich mich heute noch, dass ich dabei war.» Nachdem sich die Nachricht von der Öffnung des Brockens verbreitet hatte, sollen noch am selben Tag etwa 8000 Menschen auf den Berg gestiegen sein. «Am ersten Abend haben sie das Tor dann noch einmalzugeschlossen», sagt Berke. «Danach nicht mehr.»