1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. 1939 bis 1948 starben hier Tausende: 1939 bis 1948 starben hier Tausende: Die vergessenen Opfer von Hitler und Stalin

1939 bis 1948 starben hier Tausende 1939 bis 1948 starben hier Tausende: Die vergessenen Opfer von Hitler und Stalin

Von Julius Lukas 25.10.2017, 08:00
Das Stammlager IV B gilt als größtes Kriegsgefangenenlager der Nazis auf deutschem Boden. Ab Mitte 1945 wurde es zum sowjetischen Speziallager Nr. 1.
Das Stammlager IV B gilt als größtes Kriegsgefangenenlager der Nazis auf deutschem Boden. Ab Mitte 1945 wurde es zum sowjetischen Speziallager Nr. 1. Foto: LutzBruno/CC BY-SA 3.0

Der Boden ist voller Knochen. Menschenknochen. Tausende sind in dem Wäldchen verscharrt. Es liegt unweit der brandenburgischen Stadt Mühlberg, an der Grenze zu Sachsen.

Von 1939 bis 1948 gab es hier zwei Häftlingslager. Etwa 300.000 Menschen waren in dieser Zeit in dem Barackendorf eingesperrt. Erst setzten die Nationalsozialisten ihre Kriegsgefangenen dort fest. Als der Krieg vorbei war, quartierte die Sowjetunion ihre Gefangenen ein.

Viele Insassen starben. So viele, dass sich die Bauern nach der Auflösung des Lagers 1948 weigerten, die Fläche als Ackerland zu nutzen. Beim ersten Umgraben des Bodens hatte sie immer wieder Gebeine gefunden. Bäume wurde angepflanzt. Man wollte, dass das Lager im Dickicht verschwindet.

„Über den Ort sollte nicht nur Gras, sondern ein ganzer Wald wachsen“, so sagt es auch Matthias Taatz. Er ist Pfarrer, ein Mann von massiger Statur, dessen Bauch den Gürtel weit nach unten drückt. Wie kaum ein anderer kennt Taatz die Geschichte der beiden Lager.

Der 58-Jährige war es, der sie in die Öffentlichkeit holte. Seit fast drei Jahrzehnten kämpft er dafür, dass an die Opfer erinnert wird. Denn lange wurde geschwiegen: „In der DDR war das Lager ein Tabu, weil es sowas in der Zeit der sowjetischen Besatzung nicht gegeben haben sollte.“

Taatz steht, als er das sagt, mitten in dem Wäldchen, das eigentlich ein doppelter Wald ist. Wie die Bäume, die einst zum Vergessen gepflanzt wurden, gewachsen sind, so ist auch ein Wald aus Grabkreuzen entstanden. „Die haben Angehörige der Lageropfer hier aufgestellt“, erklärt Taatz. „Wir stehen hier nämlich auf einem Massengrab.“

Lager Mühlberg zwischen Brandenburg und Sachsen: Polnische Häftlinge mussten es 1939 errichten

Die Knochenberge, die im Untergrund liegen, entstanden ab 1939. Damals begannen polnische Häftlinge mit der Errichtung des Stammlagers IV B. Kriegsgefangene aus über 30 Nationen wurden hier inhaftiert - sogar Inder, die für Großbritannien kämpften.

Die Insassen waren zwar Gefangene, aber es gab ein Football- und ein Fußball-Feld. Und der Löschteich wurde zum Schwimmbecken umgebaut. Vor allem aber die sowjetischen Häftlinge litten. Von den 3 000 Toten bis 1945 waren 2 000 Soldaten der Sowjetarmee.

Mit dem Ende des Krieges ging der Lagerbetrieb nahtlos weiter. „Die Betten wurden eigentlich nicht kalt“, sagt Pfarrer Taatz. Die neuen Insassen des sogenannten Speziallagers waren Gefangene der Sowjetunion, inhaftiert vor allem aus politischen Gründen.

Einer der Barackenbewohner war Eberhard Hoffmann. Drei Monate vor seinem 18. Geburtstag kam er nach Mühlberg. Heute ist er 89 Jahre alt - einer der letzten Zeugen, die vom Leben im Lager erzählen können.

„Am 12. Oktober 1945 wurde ich festgenommen“, berichtet Hoffmann. Er kam zu einem Verhör. Ihm wurde vorgeworfen, ein Werwolf zu sein. Die Untergrundbewegung der SS sollte den Gegner unterwandern. In der sowjetischen Besatzungszone sah man sie als Gefahr an.

Von den Werwölfen hatte Eberhard Hoffmann aber noch nie etwas gehört - was er im Verhör auch beteuerte. „Ich wurde aber so lange verprügelt, bis ich ein Protokoll unterschrieb.“ Was darin stand, weiß er nicht. Hoffmann kam nach Mühlberg - ohne Verurteilung, ohne einen Prozess.

„Mit das schlimmste im Lager war die Langeweile“, sagt Hoffmann heute. Nur für etwa zehn Prozent der Häftlinge gab es Arbeit. Der Rest war zum Nichtstun verdammt. „Wir spielten mit Steinchen Schach, um uns zu beschäftigen.“

Im Lager Mühlberg zwischen Brandenburg und Sachsen starben viele Gefangene

Mit der Zeit wurde die Verpflegung immer schlechter. Gab es zur wässrigen Suppe anfangs noch 600 Gramm Brot, waren es bald nur noch 250 Gramm. „Ab 1947 fing in Mühlberg ein richtiges Massensterben an“, erinnert sich Hoffmann. Etwa 6 700 Menschen kamen in dem sowjetischen Speziallager ums Leben - die meisten starben in Folge der physischer und psychischer Belastungen. Wie vieles Opfer es genau waren, lässt sich heute nicht mehr sagen. Aufgearbeitet wurde die Historie des Lagers erst Jahrzehnte später.

Der Erste, der das tat, war Matthias Taatz. 1988 wird er Pfarrer in Mühlberg. Es ist seine erste Stelle. In Gesprächen mit Gemeindemitgliedern fallen schnell einzelne Sätze über das Lager. „Mehr, als dass es existiert hatte, war anfangs aber nicht herauszufinden“, erzählt Taatz.

Das Schweigen ist tief verwurzelt. Auch Eberhard Hoffmann, der von Mühlberg noch ins Lager nach Buchenwald gebracht wurde und erst 1950 frei kam, sprach nur im engsten Kreis über seine Gefangenschaft. „Aus Angst, weil ich die Konsequenzen nicht abschätzen konnte.“

Doch Pfarrer Taatz lässt das Lager nicht los - auch, weil plötzlich seine eigene Familie Teil davon wird. 1988 fährt er zu Weihnachten zu seinen Eltern nach Halle. Dort erzählt er seinem Vater - ebenfalls Pfarrer - von den knappen Berichten der Gemeindemitglieder. „Und er war nicht überrascht und sagte: Ich weiß, dass es dieses Lager gab, dein Opa ist dort verhungert.“

Bis dahin galt der Großvater von Taatz als im Krieg gefallen. Gesprochen wurde darüber nicht, weil jede Äußerung über das Lager Probleme mit dem Staat mit sich gebracht hätte. „Selbst meine Großmutter hatte es nur einmal meinem Vater gesagt und danach bis zu ihrem Tod über das Lager geschwiegen.“

Die Neugierde von Taatz ist geweckt. Er nimmt seinen Schwager mit nach Mühlberg, sie durchforsten die Wälder und finden Fundamente - die Überreste der Latrinengebäude.

Der Pfarrer tastet sich weiter vor. Er erfährt von den Massengräbern. Und ein Förster hilft ihm, diese zu finden. „Der erklärte mir, dass man an den Bäumen erkennt, wo ein Grab ist.“ Denn über die Leichen sei damals zur schnelleren Verwesung Chlorkalk geschüttet worden. „Und an den gekräuselten Blättern der Bäumen sieht man, wo das Chlorkalk im Boden ist.“

Taatz’ weiterer Nachforschungsdrang wird von der politischen Wende erst einmal gestoppt. Doch mit dem Ende der DDR ist das lange Schweigen gebrochen. Angehörige und Opfer melden sich bei ihm und kommen nach Mühlberg. „Ich habe Männer erlebt, die selbst ihren Ehefrauen nichts erzählt haben und nun begannen, darüber zu sprechen.“

Nach der Wende gibt es Gedenkveranstaltungen für die Toten des Lagers in Mühlberg

Die ersten Gedenkveranstaltungen finden statt. Für Taatz und seine Mitstreiter ist von Beginn an klar, dass den Toten beider Lager gemeinsam gedacht werden soll. Bis heute wird das auch kritisch gesehen. „Es gibt den Vorwurf, dass in Mühlberg viele Ex-Nazis inhaftiert wurden und man die nicht zu Opfern machen dürfe“, erklärt Taatz.

Allerdings seien Häftlinge wie Eberhard Hoffmann ein Gegenbeispiel. „Und bis heute gilt für uns“, sagt der Pfarrer, der seit 2001 Vorsitzender der Initiativgruppe Lager Mühlberg ist, „dass die Gefangenen beider Lager eint, dass sie ohne Verurteilung eingesperrt waren.“

Dort wo die Massengräber sind, befindet sich heute eine Trauerstätte. Durch den Wald, der auf dem Lagergelände gewachsen ist, wurde ein Erinnerungspfad gezogen. Das Gedenken wird so lebendig gehalten.

Wie schnell es allerdings in Gefahr gerät, zeigte sich 2016. Da schrieb die Bodenverwertungsgesellschaft des Bundes das Gebiet, auf dem das einstige Lager liegt, für den Kiesabbau aus. Ein Millionen-Geschäft, denn der Mühlberger Kies gilt als einer der besten in Deutschland. Sogar für den Bau des Bundeskanzleramtes wurde er verwendet.

„Als die Pläne bekannt wurden, haben wir Einspruch erhoben“, erzählt Taatz. Und der wurde erhört. Anfang 2017 wurde er von der Verwertungsgesellschaft eingeladen. „Ich durfte auf einer Karte einzeichnen, welches Gebiet vom Abbau ausgenommen werden muss“, erzählt der Pfarrer. Sein Vorschlag wurde schließlich akzeptiert. Und das Lager so vor einem erneuten Vergessen gerettet. (mz)

Das Gedenkkreuz, das heute auf dem ehemaligen Lagergelände steht (Bild oben), wurde 2004 errichtet.
Das Gedenkkreuz, das heute auf dem ehemaligen Lagergelände steht (Bild oben), wurde 2004 errichtet.
J. Lukas
Zur Erinnerung an die Toten haben Angehörige Holzkreuze aufgestellt. Mittlerweile sind es über 100.
Zur Erinnerung an die Toten haben Angehörige Holzkreuze aufgestellt. Mittlerweile sind es über 100.
J. Lukas