Wittenberg Wittenberg: Verschwundene Nachbarn
WITTENBERG/MZ. - Eine freundliche Backsteinvilla in der Puschkinstraße. Gelb strahlt die Fassade in der Herbstsonne, in endloser Folge rauschen die Autos vorbei. Bestimmt war noch nicht so viel Verkehr vor dem Tor, als der Rechtsanwalt und spätere königliche Justizrat Max Levin das Haus vor gut einem Jahrhundert für sich und seine Familie erbauen ließ. 1939 wurde das Gebäude an der damaligen Clausstraße per Nazi-Dekret ein "Judenhaus". Seine Bewohner überlebten den Holocaust nicht.
Schiere Verzweiflung
Fünf Stolpersteine im Trottoir vor der Puschkinstraße 57 erinnern seit Donnerstag an das ins "Judenhaus" zwangsumquartierte Ehepaar Gerhard und Johanna Kuhn und den gemeinsamen Sohn Bert-Emanuel - er wurde vier Jahre alt - sowie an ihre Mitbewohnerin Regina Klein, umgekommen 1942 im Lager Sobibor. Und an Eva Borowietz, Max Levins jüngste Tochter, die sich bereits 1938 aus schierer Verzweiflung in Berlin das Leben genommen hatte.
Die Geschichte der Puschkinstraße 57 ist auch die Geschichte der Zerstörung einer angesehenen Wittenberger Juristenfamilie, die sich, außer dass sie eben jüdisch war, nicht unterschied von anderen. 1897 hatte Max Levin (später Ledien) seine Lieben allesamt evangelisch taufen lassen, in der Stadtkirche. Alle Kinder heirateten so genannte Arier, Eva einen hochrangigen Militär in Berlin.
Erika Viezens ist an diesem Mittwoch eigens aus Hamburg in die Lutherstadt gereist, um der Verlegung der "Stolpersteine" vor ihrem Elternhaus beizuwohnen. Acht Jahre lang, als Schülerin, hat die Enkelin von Max Ledien und Tochter von dessen Sohn Hans hier gelebt. Ihr Verhältnis zur Stadt ist bitter, bis heute. "Ich liebe Wittenberg nicht gerade", sagt Viezens, "ich bin hier sehr schikaniert worden." Warum sie trotzdem hergekommen ist? "Ich wollte sehen, wie Wittenberg reagiert." Reagiert auf die Aktion des Künstlers Gunter Demnig, dessen Messingwürfel mit den Lebensdaten von den Nazis ermordeter Hausbewohner seit vier Jahren auch in der Lutherstadt verlegt werden. "Taktvoll", sagt Viezens dann, finde sie die Zeremonie, und klingt, als hätte sie das überrascht.
Während die örtlichen Initiatoren Mario Dittrich, Renate Gruber-Lieblich und Reinhard Pester vor der versammelten kleinen Menschenmenge die Leben der ermordeten Mitbürger nachzeichnen, gräbt Demnig ruhig seine Stolpersteine ein. Am Monatsende werden es, in ganz Europa, 32 000 sein, erzählt er. Und immer, sagt er, "ist es ein Geschenk der Bürger an die Stadt". Auch in Wittenberg bringen Privatleute das Geld dafür auf.
17 Steine erinnern inzwischen an jüdische Wittenberger, Wittenberger Juden, die Nachbarn von nebenan. Im kommenden Jahr seien weitere geplant, kündigt Gruber-Lieblich an. Rosa-Luxemburg-Schüler legen, jeder eine, ein paar Blumen nieder auf die neuen Steine, Frauen und Männer aus der Jüdischen Gemeinde Dessau singen gemeinsam mit Friedrich Kramer, dem Direktor der Evangelischen Akademie, ein traurig-schönes Lied auf Hebräisch.
"Wehrwirtschaftliche Gründe"
Am 15. April 1940 darf das Haus, das einst Max Levin für seine Familie erbauen ließ, auch kein "Judenhaus" mehr sein. Die Villa hat arische Begehrlichkeiten geweckt, es soll aus "wehrwirtschaftlichen Gründen" geräumt werden, den Bewohnern, der Familie Kuhn und Regina Klein, werden zwei Räume in der Obdachlosenunterkunft Gaststraße angeboten. Es ist der Anfang vom Ende der bürgerlichen Existenz. Am 3. Juni 1942 werden die vier Wittenberger deportiert, sie kehren nicht zurück.
Eva Borowietz, geborene Levin, erlebt all dies nicht mehr. Als sie 1938 in Berlin den Freitod wählt, hinterlässt sie Mann und Kinder. So stand ihr Enkel Peter Hohensee am Donnerstag ebenfalls vor dem Haus an der verkehrsbelebten Puschkinstraße. Nein, er sei nicht das erste Mal in Wittenberg, sagt der Mann aus Heidelberg. Er habe hier schließlich "Grundstücke". Sie sind ganz klein. Es sind Gräber.