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Wittenberg Wittenberg: Gymnasium trotz Down-Syndrom

Von ANTONIE STÄDTER 21.09.2012, 16:03

Halle (Saale)/MZ. - Wie es heute in der Schule gewesen ist? Anastasia überlegt kurz, zuckt dann aber mit den Schultern. "Ich weiß nicht", sagt die Fünftklässlerin mit einem schüchternen Lächeln. Zweiter Versuch: Gefällt es ihr dort? Anastasia nickt. Und dass ihr Zwillingsbruder in dieselbe Klasse geht? Findet sie: "gut". Und dann erzählt sie doch noch ein bisschen. Dass sie in Ethik die Tafel abgewischt hat, Mathe ihr allerliebstes Fach ist. Und dass es toll ist, nicht nur mit ihrem Bruder Maximilian - ebenfalls Mathe-Fan - in eine Klasse zu gehen, sondern auch mit etlichen Freunden. Viele Kinder ihrer Grundschulklasse sind wie sie auf das Wittenberger Luther-Melanchthon-Gymnasium gewechselt.

Doch bei Anastasia, die meist nur "Anna" genannt wird, ist das nicht so selbstverständlich wie bei den anderen: Das Mädchen, das mit seinem Bruder am Freitag elf Jahre alt geworden ist, hat - anders als er - das Down-Syndrom. Und ist damit das erste Kind in Sachsen-Anhalt mit Down-Syndrom, das auf ein Gymnasium gehen darf.

Dafür haben Kathrin und Alexander Scholz, ihre Eltern, in den vergangenen Monaten gekämpft. Und sind sich sicher: "Wenn wir nicht drangeblieben wären, wäre unser Antrag bei der Schulbehörde ganz bestimmt abgelehnt worden." Denn zunächst sei ihnen signalisiert worden, dass es mit Anastasia und dem Gymnasium nichts werden wird. "Uns wurden immer wieder andere Möglichkeiten vorgeschlagen", erzählt der 37-jährige Vater. Letztlich aber setzten sich die engagierten Eltern durch, die sich schon vor einem Jahr aktiv mit der Frage der richtigen Schulform für ihre Tochter beschäftigt hatten. In einer Einzelfallentscheidung bewilligte die Behörde den Antrag schließlich - weil der Zwillingsbruder auf's gleiche Gymnasium geht.

Und so sitzt in der Klasse 5c der Schule nun immer auch Anastasias Integrationshelferin. Der Elfjährigen ist bewusst ein Platz ganz hinten im Raum zugeteilt worden - damit sie, wenn nötig, die Möglichkeit hat, hinauszugehen. Sie nutzt auch andere Unterrichtsmaterialien als ihre Klassenkameraden. Und zum Lesen üben oder für jene Stunden, in denen die anderen eine Klassenarbeit schreiben, gibt es in dem Gymnasium für Anastasia einen extra Raum. Zusätzlich zum normalen Unterricht erhält sie zwei Förderschulstunden pro Woche. Hausaufgaben muss sie - wenigstens einmal pro Woche - auch machen. "Der Unterricht soll für sie heruntergebrochen werden", erzählt die Mutter. Gerade behandelt die Klasse etwa die Namensgeber der Schule, Luther und Melanchthon. "Während die anderen die Daten lernen, schreibt sie die Namen auf oder sammelt Bilder dazu", so Vater Alexander Scholz, der Arbeitsvermittler im Job-Center ist.

"Natürlich gab es anfangs auch Unsicherheiten bei den Lehrern. Doch sie sind sehr interessiert und machen sich Gedanken, wie sie Anna einbeziehen können", sagt die Mutter. Vor dem Schulstart hatten sich die Eltern mit den Fachlehrern und dem Direktor getroffen, um offene Fragen zu klären. Was den beiden etwa auch sehr wichtig ist: "Max soll nicht das Gefühl haben, dass er immer nur aufpassen soll." Und wie ist das, gemeinsam mit der Schwester im Unterricht zu sitzen? Der sechs Minuten ältere Maximilian denkt nach. "Normal." Schließlich ist es schon immer so, seit der ersten Klasse besuchen sie zusammen die Regelschule. Und der begeisterte Fußballer, der Torwart im Verein ist, erzählt, dass sich Anastasia, die als ruhige Schülerin gilt, im neuen Ethik-Unterricht erst nicht vorstellen wollte. "Als ich etwas über sie gesagt habe, hat sie es dann doch gemacht." Die Zwillinge, die mit Lilliana (6) und Florian (3) noch zwei Geschwister haben, sind ein Herz und eine Seele - von kleinen Geschwister-Kabbeleien einmal abgesehen.

Eine Frage bekommen Kathrin und Alexander Scholz oft gestellt: Warum schicken sie die Tochter auf's Gymnasium - obwohl doch klar ist, dass sie das Abitur nie erreichen wird? "Wir müssen uns immer erklären", sagt die 38-Jährige. Doch sie antworten geduldig, weil es ihnen wichtig ist. "Wir wollen, dass Anna gemeinsamen Unterricht mit gesunden Kindern hat, weil sie so Sozialkompetenzen erwirbt, die ihr im späteren Leben helfen", so die studierte Sozialpädagogin. "Kinder mit Down-Syndrom lernen ja von gleichaltrigen gesunden Kindern am meisten." Auch in der Grundschule habe das sehr gut geklappt und mit Mitschülern nie Probleme gegeben. Nachdem die Eltern dann Vor- und Nachteile der Schulformen abgewogen hatten, entschieden sie sich für das Luther-Melanchthon-Gymnasium - "zumal vor allem der Direktor dem sehr offen gegenüberstand und uns unterstützt hat". Zuvor hatten sie von einem Gymnasium in Bad Harzburg (Niedersachsen) gehört, das mehrere Kinder mit Down-Syndrom besuchen.

Die Umstellung auf Blockunterricht mit je 90 Minuten mache Anastasia nichts aus. "Sie hält das super durch", sagt die Mutter. Und erzählt, wie das Mädchen oft aus der Schule kommt und drauflos plappert - "etwa vom Mittagessen oder den Freundinnen". Anastasia, die in ihrer Freizeit tanzt, interessiert sich für die gleichen Dinge wie Gleichaltrige. Zum Beispiel dafür, wer bei "Deutschland sucht den Superstar" rausfliegt. "Da weiß sie über alles Bescheid", lacht ihre Mutter, die in Wittenberg eine Selbsthilfegruppe für Eltern mit behinderten Kindern leitet. Diese soziale Integration ist ihr und ihrem Mann wichtig.

Was sie sich für ihre Kinder wünschen? "Dass sie ihren Weg gehen." Jeder auf seine eigene Art.