1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Wittenberg
  6. >
  7. Debatte um Wittenberger „Judensau“: Wie viele für Erhalt des Reliefs an Wittenbergs Kirche plädieren

Debatte um Wittenberger „Judensau“ Wie viele für Erhalt des Reliefs an Wittenbergs Kirche plädieren

Noch immer ist keine Entscheidung gefallen, ob die Schmähplastik an der Stadtkirche in Wittenberg bleiben oder verschwinden soll. Welche Meinungen dazu nun in einer Diskussionsrunde in der Evangelischen Akademie zu hören gewesen sind.

Von Marcel Duclaud Aktualisiert: 25.08.2022, 18:01
Die umstrittene Schmähskulptur "Judensau" an der Wittenberger Stadtkirche
Die umstrittene Schmähskulptur "Judensau" an der Wittenberger Stadtkirche Thomas Klitzsch

Wittenberg/MZ - Soll die Schmähplastik, wie die „Judensau“ an Wittenbergs Stadtkirche genannt wird, weichen? Weil sie von jahrhundertelangem Antisemitismus erzählt, weil sie eine tragende Rolle bei der Verbreitung von Judenhass spielt, weil sie beleidigt, ausgrenzt, abwertet. Oder soll sie bleiben, quasi als Mahnmal - in Verbindung mit der Bodenplatte und der Zeder? Die Debatte wird seit Jahren geführt, zum Teil hitzig, bekanntlich auch vor Gerichten. Eine Entscheidung ist nach wie vor nicht gefallen. Die muss letztlich der Gemeindekirchenrat treffen. „Eine schwierige Situation. Falsch sein wird sie so oder so“, ahnt dessen Vorsitzender Jörg Bielig.

Bielig sagt auch: „Wir nehmen uns die Zeit, die wir brauchen.“ Auf dem Weg zur Entscheidung hat die Evangelische Akademie am Mittwochabend zu einer Diskussion eingeladen unter dem Motto „Nicht von gestern...“. Was sich auf die umfassende Aktualität beziehen dürfte.

Debatte zur „Judensau“ in der Evangelischen Akademie
Debatte zur „Judensau“ in der Evangelischen Akademie
Foto: Thomas Klitzsch

Nicht von gestern, lautete das Motto

Der Streit gewann an Brisanz, als der Expertenbeirat, der vor zwei Jahren ins Leben gerufen wurde, wie berichtet eine Abnahme des Sandsteinreliefs und die Präsentation in einem geschützten Raum in Nähe der Stadtkirche empfohlen hatte. Die Rede ist von einem Anschauungs- und Lernort, den es zu entwickeln gelte, von einer „Musealisierung der Plastik“, von „Rationalisierung“ und Dokumentation. Die Empfehlung kam kurz nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofes, der urteilte, dass die Schmähplastik als Teil einer Stätte der Mahnung am Ort bleiben dürfe.

Moderiert wird das Expertengremium von Akademiedirektor Christoph Maier, der die Empfehlung am Mittwoch erklärte und verteidigte - allerdings keinen leichten Stand hatte. Für die Abnahme der „Judensau“, Maier nennt es „sie der Sichtbarkeit entziehen“, sprach sich kein einziger der Teilnehmer aus, die sich zu Wort meldeten - und das waren nicht wenige. Zum Beispiel der Reformationshistoriker Volkmar Joestel. Judenhass, sagt Joestel, laste „wie ein Alb auf unser aller Schultern. Wir tragen Verantwortung“. Nur müsse man verstehen und nicht verdrängen. Ein Museum wäre Verdrängung: „Dort ist es ein Artefakt wie jedes andere.“

Foto eines KZ oder Bilder von den Nazis getöteten Wittenberger Juden als Ergänzung

Das Relief löse „Bedrückung“ aus, wenn es erklärt werde. Würde es abgenommen, verliere das Mahnmal an Wirkung. Joestel plädiert für eine Ergänzung - das Foto eines Konzentrationslagers oder Bilder von Wittenberger Juden, die in der Nazizeit starben.

Dass es verkürzt sei, oft nur von der Schmähplastik zu reden, kritisiert Hanna Kasparick, lange Jahre Direktorin des Predigerseminars. Das Ensemble an der Stadtkirche sei längst ein Mahnmal, „eine Anklage, ein Ausrufezeichen“. Die Pläne des Beirats liefen auf Musealisierung hinaus, und das bedeute: Distanz. Distanz wiederum sei suboptimal, wenn es um die Entwicklung von Haltungen geht. An dem Ort, so Kasparick, nehme die Stadtgesellschaft Verantwortung wahr.

Im Übrigen gebe es auch Stimmen jüdischer Menschen, die meinen: Haltet die Bildwerke in der Öffentlichkeit, sie weisen auf Geschichte hin. Ihr Wunsch ist eine Ergänzung mit „temporären Kunstwerken“ - als Auseinandersetzung mit diesem Ort.

Denkmalschutz ist für Erhalt des Reliefs: „Wichtiges historisches Zeugnis“

Welche Rolle der Denkmalschutz spielt, auch diese Frage ist gestellt worden bei der Informationsveranstaltung in der Akademie. Würde der denn einer Abnahme überhaupt zustimmen? Dazu gab es eine klare Antwort von Mario Titze vom Landesamt für Denkmalschutz und Archäologie, der ebenfalls dem Expertenbeirat angehört. Er nennt die Schmähplastik „ein wichtiges historisches Zeugnis“. Das Landesamt sei „nicht interessiert an der Entfernung“.

Bernhard Naumann, lange Jahre Kirchmeister an der Stadtkirche, meldete sich an dem Abend ebenfalls zu Wort. Das Thema brauche Fingerspitzengefühl und eine sachliche Debatte, schickte er voraus. Für ihn sei indes klar, dass ein Original an einen originalen Ort gehört. Mit einer Leerstelle, die zu den Ideen des Beirats zählt, würden wichtige Diskussionen nicht stattfinden: „Es gibt keine Stadtführung, die daran vorbei geht.“ Aber sicherlich sei mehr Erklärung nötig.

Texte der Mahnmal-Bodenplatte seien zu akademisch

Das bemerkte nicht zuletzt ein junger Vater, der aus Berlin kommt und Wittenberg offenkundig schätzt. Ihm fehle ein „einfacher Zugang“ zu dem Relief ebenso wie zu der Bodenplatte, deren Botschaft laut Friedemann Ehrig lautet: „Noch so großer Druck kann die Schuld nicht verdecken. Sie quillt immer hervor.“ Die Texte, so der Berliner, seien jedenfalls zu akademisch: „Ich würde mir mehr Erklärung, mehr Einordnung wünschen.“

Das Schlusswort blieb Jörg Bielig: Er sprach unter anderem von einer „sehr christlichen, deutschen Sicht“ bei der Diskussion und von zu wenig jüdischer Perspektive. „Wir müssen uns“, mahnt er, „um den christlich-jüdischen Dialog kümmern.“