Tokio-Hotel-Konzert Tokio-Hotel-Konzert: Kein Platz in der ersten Reihe für Rollstuhlfahrerin

Wittenberg - Die junge Frau findet deutliche Worte. „Ich bin sehr gefrustet und ziemlich traurig - nicht zuletzt auch mega enttäuscht“, erklärt die 27-Jährige. Sie habe „wieder eine Begegnung der Dritten Art“ erlebt. „Und das bei meiner Lieblingsband - das hat mich sehr getroffen“, betont die Wittenbergerin. Es geht um ein Konzert von „Tokio Hotel“ in Leipzig.
Für Susanne Reintzsch sind die Erinnerung daran nicht die besten. „Ich sah nichts als die Rückfronten der Besucher vor mir. Und das immerhin für 49 Euro, eine große Summe für mich“, sagt die Frau, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Sauerstoffmangel bei ihrer Geburt ist die Ursache für ihr Handicap. Sie muss damit leben - und bewältigt es gut in ihrer eigenen Wohnung, die sie sich erkämpft hat.
Eine Konzertreise ist natürlich eine „logistische Herausforderung“, räumt sie im MZ-Gespräch ein. Eine perfekte Vorbereitung ist dabei alles. Das weiß sie spätestens, als sie vor zwei Jahren bei „Tokio Hotel“ - damals in Berlin - auch schon rein gar nichts gesehen hat. Damit dies nicht wieder passiert, hat sie den Leipziger Veranstalter per Mail angeschrieben.
Die Antwort vom Justiziar klingt vielversprechend. „Wir sind selbstverständlich bemüht, Ihnen ein unvergessliches Konzerterlebnis zu bieten“, antwortet der Mann, der in seiner Mail betont: Es gebe für Rollstuhlfahrer „eine ungehinderte Sicht auf die Bühne“. Seine Empfehlung: 60 Minuten vor Konzertbeginn melden.
Susanne Reintzsch überlässt nichts dem Zufall und geht auf Nummer sicher. Sie ist 90 Minuten vorher vor Ort. Doch geholfen hat es nicht. Sie sieht weder das Bühnenbild noch die futuristischen Kostüme, die so gar nicht nach einem klassischen Teenie-Konzert aussehen. Sie hört das schrille Kreischen der meist weiblichen Fans, die elektronischen Klänge, Disco-Beats und den Synthie-Pop.
Die Künstler stellen ihr neues Album „Dream Machine“ vor. Gern hätte sie die attraktiven Männer - dies und die Musik haben sie zum Fan werden lassen - in Augenschein genommen. So weiß sie nur aus der MZ-Berichterstattung, dass Bill Kaulitz mal im schützenden Kettenhemd, mal im lasziv durchsichtigen T-Shirt über die Bühne tigerte.
„Die MZ-Kritik war ein ziemlicher Verriss. Ich kann das aber eigentlich nicht beurteilen. Ich habe ja nichts gesehen“, so die Wittenbergerin zur MZ.
In Erinnerung bleiben die Kommentare der anderen Besucher. „Ich soll nicht alle umfahren oder verletzen, nur damit ich auch was sehe. Oder es wurde gefragt, warum ich denn mit dem Smartphone fotografiere, ich würde eh nichts von der Bühne sehen“, sagt Susanne Reintzsch.
Ihr Schicksal teilten in dem nicht ausverkauften Konzert insgesamt zwölf Rollstuhlfahrer, die laut Reintzsch alle nichts gesehen haben. „Wieder einmal habe ich erlebt, dass Veranstalter mehr versprechen, als sie halten können, und dass die Teilnahme behinderter Menschen an kulturellen Veranstaltungen als großzügiges Zugeständnis des Veranstalters gesehen wird. Aber das ist es nicht! Es ist ein Menschenrecht“, so Reintzsch.
Plätze in oder vor der ersten Reihe - so handhabt es zum Beispiel das Wittenberger Stadthaus - werden aus „Sicherheitsgründen“ abgelehnt. Das hatte der Justiziar schon vor dem Konzert mitgeteilt. Ins Detail ging der Jurist aber nicht.
„Es gibt Vorgaben, die bedingen, dass das Podest nah an der behinderten-gerechten Toilette positioniert sein muss“, erklärt ein Sprecher des Veranstalters auf MZ-Anfrage.
„Dies ist notwendig, um sicherstellen zu können, dass die Gäste das WC aufsuchen können, ohne durchs gesamte Publikum fahren zu müssen. Außerdem ist es zwingend erforderlich, dass das Podest nah an einem Notausgang stehen muss, um im Notfall ein schnellstmögliches Verlassen der Lokalität garantieren zu können. Des Weiteren können und dürfen wir mit dem Podest keine Notausgänge im vorderen Bereich des Objektes blockieren, weshalb der Standort im hinteren Bereich des Hauses der einzig mögliche ist.“
Nach seinen Angaben gab es beim Konzert auch ein „erhöhtes Rollipodest“, welches am Abend auch nicht komplett besetzt war. Von dort aus hat man ungehinderte Sicht auf die Bühne. Nach Auswertung der Bilder sind die Leipziger sicher, das Susanne Reintzsch ebenerdig gesessen hat.
„Das können wir nicht nachvollziehen“, heißt es in der Mail an die MZ. „Ich möchte versichern, dass es uns wirklich leidtut, dass Frau Reintzsch den Abend nicht genießen konnte. Die Zusicherung der uneingeschränkten Sicht erfolgte nach bestem Wissen und Gewissen und war eigentlich auch gewährleistet. Warum es in diesem Fall nun nicht geklappt hat, versuchen wir gerade zu ermitteln.“ (mz)
