Taktstock und Musik Reformationstag: Welches Programm der neue Wittenberger Kantor zusammenstellte und wie das Publikum reagierte
Was der neue Kantor der Wittenberger Stadtkirche in nur wenigen Wochen zusammengestellt hat und wie das Publikum darauf reagiert.

Wittenberg/MZ - Um Frieden kann man niemals genug bitten. Deshalb war die Wiederholung von Felix Mendelssohn Bartholdys Kantate „Verleih uns Frieden“ mit dem berühmten Luther-Text, zum Reformationstag, in der Wittenberger Stadtkirche keine einfache Repetition, sondern die eindringliche Erneuerung eines Wunsches, der die Menschen schon immer bewegt hat.
Mit Nachhall
Zugleich gab die zweifache musikalische Anrufung Gottes allen Anwesenden Gelegenheit, die Musik, die mit ihrem Verstummen naturgemäß nur noch Erinnerung ist, ein weiteres Mal in sich aufzunehmen und den Nachhall zu verlängern. Die Wittenberger Kantorei und ihr neuer Leiter Christoph Hagemann, Nachfolger von Heike Mross-Lamberti, wirkten daran mit. Das zahlreiche Publikum durfte hören. Und am Ende klatschen.
Dieses lange ersehnte und mit Spannung erwartete, kurze und doch wunderbare Konzert verkündete eine Botschaft des Aufbruchs, die der Ausgestaltung des Reformationstages in der Lutherstadt gut zu Gesicht stand. Dass professionelle Theater und Orchester nach der Corona-Pause längst wieder spielen, hat ein wenig den Blick auf Probleme verstellt, mit denen gerade Laienchöre zu kämpfen haben. Erst allmählich schwindet die Furcht vor dem gemeinsamen Gesang, sind Proben wieder möglich, finden sich Sängerinnen und Sänger wieder zusammen. Motivation ist gefragt.

Seit seinem Amtsantritt am 1. September hatte Christoph Hagemann, aus Berlin nach Wittenberg gekommen, mit seiner Kantorei höchst engagiert auf das Konzert am 31. Oktober hingearbeitet, um in wenigen Wochen das Mögliche zu gestalten. So waren es keine wirklich großen Aufgaben, die der Chor diesmal zu bewältigen hatte, aber dankbare, sangliche Werke von Mendelssohn, in denen die Kantorei dennoch ihre Qualität unter Beweis stellen - und an deren Interpretation fein gefeilt werden konnte.
Wie die Männerstimmen in der erwähnten Kantate „Verleih uns Frieden“ sensibel und aus einem klanglichen Guss über dem Orgelgrund von Otto-Bernhard Glüer begannen, wie die Frauen mit dem Kinderchor glockenhell hinzutraten, es war ergreifend. Doch der Chor konnte auch dramatisch auftrumpfen in der Hymne „Hör mein Bitten“ - im Dialog mit der Sopranistin Cornelia Marschall. Da lästerten im Volkszorn die Feinde Israels und bliesen den Wind großer Oratorien durch das Kirchenschiff. Wenn die Kantorei sich Zahl und Klangkraft auf diesem Niveau erhalten kann, wird sehr viel möglich sein in den nächsten Jahren.
Mit Begeisterung
Zwei kurze Kantaten, das wäre freilich zu wenig gewesen für einen Auftritt. Deshalb hatte Christoph Hagemann das Programm um zwei Sopran-Arien aus zwei Bachkantaten ergänzt. Und wechselte für zwei weitere Werke Mendelssohns auf die Bank der großen Sauer-Orgel, die für das romantische Repertoire ja prädestiniert ist. Es war eine naheliegende Vereinigung des Barockmeisters mit seinem jungen Wiederentdecker. Vielleicht hätte das Orgel-Präludium mit der Fuge in c-Moll einen besseren Eingang abgegeben als die Arie „Komm in mein Herzenshaus“ aus der Bach-Kantate „Ein feste Burg“ (BWV 80), die am Anfang etwas unvermittelt stand. Cornelia Marschall sang sie - wie auch die Arie „Höchster, mache deine Güte“ aus der Kantate „Jauchzet Gott“ (BWV 51) - mit viel Volumen und einigem Vibrato, dabei warm-runder Stimme, die später gut zur Mendelssohn-Hymne „Hör mein Bitten“ passte.
Hagemann wiederum spielte gemessen und sorgsam modellierend, später in der Mendelssohn-Orgelsonate f-Moll dann mit mehr Feuer, das im abschließenden Satz „Allegro assai vivace“ beinahe rauschhaft loderte.
„Mein Taktstock allein macht keine Musik“, hatte er im Boten der Stadtkirchengemeinde geschrieben und damit zur Mitwirkung an Kinderchor und Kantorei aufgerufen. Doch wer in die leuchtenden Augen der singenden Frauen, Männer und Kinder sah, gewann einen sehr deutlichen Eindruck davon, wieviel Begeisterung der Mann am Pult mit Stock auf das Ensemble überträgt. Irgendwann am Ende des Beifalls trat er allein an die Brüstung der Empore. Ovationen schlugen ihm entgegen.