Musik Musik : Guter Ton seit 135 Jahren

bad schmiedeberg/MZ - Annelies Kretzschmann ist schon 38 Jahre dabei, 1975 war es, als sich die Bad Schmiedebergerin dem traditionsreichen Chor ihrer Heimatstadt anschloss. Heute ist die Sängerin 81 Jahre, freut sich über „die große Familie“ und ärgert sich ein bisschen, weil langes Stehen bei Auftritten sie doch ziemlich anstrengt.
81 Jahre freilich sind nichts gegen das Alter des Chores „Lyra“, der in wenigen Tagen auf ein seltenes Jubiläum verweisen kann: auf das 135-jährige Bestehen. Der Chor hat Höhen und Tiefen erlebt, aber seine Existenz bewahrt - samt der Vereinsfahne, die 1886 geweiht wurde und wohlverwahrt bei Vereinschefin Astrid Kupke darauf wartet, wieder einmal enthüllt zu werden.
Lange dauert das nicht mehr, am 15. September, zum Jubiläumsauftritt im Festsaal des Kurhauses, wird die Fahne aufgespannt. Gegründet worden ist der Gesangverein in dem Jahr, in dem auch das städtische Eisenmoorbad ins Laufen kam. Die Fäden zog bekanntlich Schmiedebergs damaliger Bürgermeister Moritz Hauswald. Der war es auch, der die Chor-Gründungsurkunde unterzeichnete, datiert auf den 10. September 1878.
Kontinuitäten lassen sich in mehrfacher Hinsicht entdecken. Der erste Vorsitzende des Chores etwa hieß Carl Saul, Bäckermeister seines Zeichens. Gleich zwei seiner Nachkommen gehören noch immer dem Gesangverein an, Ortschronist Felix Saul und Tochter Martina Saul, ein Sopran.
Gegründet wurde „Lyra“, der älteste aktive Verein von Bad Schmiedeberg, als Männerchor. Das änderte sich nach den beiden verheerenden Weltkriegen. Aus denen kehrten zahlreiche Sangesbrüder nicht zurück. Die verbliebenen Chormänner nahmen nach dem Krieg kurzerhand ihre Frauen mit, aus dem Männerchor wurde ab 1948 ein gemischter Chor. Das ist er bis heute, wenn auch inzwischen die Männer eher Mangelware sind. 21 Sänger zählt „Lyra“ gegenwärtig, davon sind 15 Frauen. Und von den sechs Männern singen fünf Bass. „Wir suchen dringend Tenöre“, bemerkt also Astrid Kupke und verweist auf ein unkompliziertes Prozedere: „Wer mitmachen möchte, kann einfach zur Probe kommen. Vorsingen muss man bei uns nicht.“
Die Qualität indes hat einen erheblichen Schwung erhalten in jüngster Zeit. Mit Heidi Becker ist seit Mai diesen Jahres eine neue, ehrgeizige Chorleiterin im Boot. „Mit ihr haben wir“, jubelt die Vereinschefin, „einen Quantensprung gemacht. Sie schleift uns allerdings auch mächtig, feilt an vielem, zum Beispiel an der Aussprache.“ Die junge Frau stammt aus der Nähe von Stuttgart, hat Musik und Gesang studiert und macht gegenwärtig in Leipzig ihren Master in Chor- und Ensembleleitung.
Astrid Kupke ist ausgesprochen froh über die Verstärkung, vorher, sagt sie, bestand die Gefahr, dass der Chor sein 135-jähriges Jubiläum nicht mehr erlebt. Das ist Geschichte. Die Sänger sind mit Eifer bei der Sache - und haben jede Menge zu tun. „Wir kommen auf etwa 40 Auftritte im Jahr“, betont sie und zählt auf: Geburtstage, Hochzeiten, Weihnachtsfeiern, Singen im Advent, Margarethenfest, zwei Konzerte der Generationen gemeinsam mit dem Chor des Paul-Gerhardt-Gymnasiums.
Für Astrid Kupke selbst, die aus Stendal stammt und 1996 zum Chor stieß, bedeutet der Gesangverein „Erholung und Freude“. Im Übrigen singe sie mit Leidenschaft und „überall, wo es geht. Im Garten zum Beispiel oder im Auto, ganz laut“. Dem Chor gehören nicht nur Bad Schmiedeberger an. Zum gemeinschaftlichen Singen eigens aus Pretzsch kommt etwa Wilhelm Gründler. Der 78-Jährige ist ein erfahrener Sänger: „Mit 19 Jahren bin ich in den Männerchor Pretzsch eingetreten.“ Als der sich aufgelöst hatte, wechselte er zum benachbarten Chor „Lyra“. „Singen“, sagt Wilhelm Gründler, „macht einfach Freude, ist immer eine Abwechslung. Und man kommt unter Leute.“