Historie Mathias Tietke: Berliner Autor berichtet über 60er und 70er Jahre in Wittenberg

Wittenberg - Mathias Tietke ist Wahlberliner, aber seine Geburtsstadt Wittenberg lässt ihn nicht los. Mit ungebrochener Neugier forscht er, besucht Archive und sichtet alte Zeitungen - stets auf der Suche nach Geschichten, die zu erzählen sich lohnt. Nachdem 2015 sein erstes Wittenberg-Buch „Die 99 besonderen Seiten der Stadt“ erschien, legt er nun ein weiteres Werk über seine alte Heimat vor. Die neue Publikation trägt den Titel „Bier aus dem Marktbrunnen“ und wird im Drei Kastanien Verlag Wittenberg von Mario Dittrich herausgegeben.
„Wenn nicht die Kindheit, was denn war damals, das nicht mehr ist? Flächen! Abhänge! Es war mehr Ordnung! Und alles war nur Reiche des Lichts und leuchtende Grenzen.“ So lautet ein Zitat von Saint-John Perse („Einer Kindheit zur Feier“), das Tietke seinen Ausführungen voranstellt. Zudem erfährt der Leser, dass er das Buch seiner Großmutter Frieda Hirsekorn widmet, die ihm „stets voller Güte und Gottvertrauen“, ein Refugium und den Freiraum bot, der es ihm ermöglichte, „Dinge auszuprobieren und mich zu entfalten“.
„Meine Kindheit in Wittenberg“ titelt folgerichtig Teil 1 der Publikation, in dessen Mittelpunkt die 1960er Jahre stehen. Die Themenvielfalt ist groß - sie reicht von Dampf- und Wannenbädern über Schulwege und kuriose Anzeigen in der Wittenberger Ausgabe der „Freiheit“ bis zum Reformationsfest 1967, bei dem Tietkes persönliche Erinnerungen auf zwei Momente besonders abheben, einer war der Anblick eines Ochsen am Spieß (...) und der Geruch von Senf, gegrilltem Fleisch - und Bier, das direkt aus dem Marktbrunnen floss.
„Mit acht Jahren hatte ich natürlich keine Absicht und auch keine Chance auf ein solches Kuckucksbier, aber der Umstand, dass da Bier aus dem Marktbrunnen verteilt wurde und der kleinwüchsige Bürgermeister dort den Anfang machte, das empfand ich durchaus als etwas Außergewöhnliches, was es ja auch war.“
Mathias Tietke wurde 1959 in Wittenberg geboren, seit 1987 lebt er in Berlin. Nach dem Besuch der Polytechnischen Oberschule „Rosa-Luxemburg“ arbeitete er als Möbeltischler im Möbelwerk Wiwena, als Requisiteur am Elbe-Elster-Theater und als „Sargdesigner“ beim VEB Garten- und Landschaftsgestaltung. Seit 2002 ist er freischaffend als Fachjournalist, Sachbuchautor und Yogalehrer tätig. 2015 erschien im Mitteldeutschen Verlag das Buch „Wittenberg. Die 99 besonderen Seiten der Stadt“, im gleichen Jahr und 2016 Beiträge u. a. über Wittenberger Künstler im Elbekurier der MZ.
Im Mittelpunkt von „Bier aus dem Marktbrunnen...“ stehen die 1960er und 1970er Jahre. Damals „gab es in Wittenberg auch ein Stadtleben jenseits sozialistischer Planwirtschaft: Im Sommer Abkühlung durch Sprengwagen und im Winter viel Spaß am Kasinoberg. An Automaten konnte man rund um die Uhr diverse Waren erwerben und auf der Kuhlache fand jedes Jahr die ,Vogelwiese’ statt“. Von damals Alltäglichem, vom Jubiläum „450 Jahre Reformation“ 1967 und von den Sensationen jener zwei Jahrzehnte handelt das Buch, das zudem 100 Abbildungen enthält.
In seiner Bewertung des damaligen Reformationsfestes schreibt Tietke: „Es fällt auf, dass hier Reformation und Revolution in einem Atemzug genannt werden, als wäre das Bestreben, etwas zu reformieren und die Intention, ein bestehendes System mit einer Revolte zu stürzen, identisch“.
Teil 2 greift in die 1970er, respektive in die Jugendjahre des Autors, der u. a. lebhafte Erinnerungen hat an Verkaufsautomaten, die es etwa am „Durchbruch“ zwischen Collegien- und Mittelstraße gegeben habe, und beim Gemüsehändler Müller in der Collegienstraße. Einer dieser alten Automaten stehe noch in einem Privathaushalt in Wittenberg. Inzwischen hat Tietke diese Geschichte übrigens weiter recherchiert: Den älteren Verkaufsautomaten von „Telefonbau & Normalzeit Lehner & Co.“ bringt demnach Wolfgang Wimpelberg gerade wieder in Gang...
Zurück zum Buch „Bier aus dem Marktbrunnen“. Es ist eine interessante Zeitreise, zu der Tietke einlädt, und die auch für jüngere Zeitgenossen spannend sein kann, nachdem sich Wittenberg in den letzten Jahren städtebaulich noch einmal erheblich verändert hat. Davon abgesehen ist es, wie Tietke selbst auf Nachfrage gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung erklärt, „das persönlichste Buch, das ich je geschrieben habe“.
Gut einen Monat habe das konzentrierte Schreiben gedauert, ungleich länger die „Sammelphase“ davor. Und noch etwas sagt Tietke: Das dritte Wittenberg-Buch sei schon in Arbeit. Sein Titel? „Alles außer Luther“. (mz)
Sein neues Buch „Bier aus dem Marktbrunnen. Wittenberg in den 1960er und 1970er Jahren“ stellt er am 22. Dezember ab 15 Uhr bei Thalia im Arsenal vor. Er liest zwei Passagen und zeigt historische Fotos. Danach besteht die Möglichkeit zum Gespräch.
