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Leseprobe "Der Korrektor" (Teil 3 Leseprobe "Der Korrektor" (Teil 3): Bürschchen an der Front

Von Mario Dittrich 21.04.2020, 08:50
„Der Korrektor“ von Mario Dittrich, Buch-Cover
„Der Korrektor“ von Mario Dittrich, Buch-Cover Hanus

Wittenberg - Mario Dittrich lässt in seinem Roman „Der Korrektor“ seinen fiktiven Protagonisten, der am 1. Januar 1900 geboren sein soll, reale Ereignisse miterleben, die sich in Wittenberg und anderen Orten Mitteldeutschlands zugetragen haben. Hier spielt die Handlung 1917:

Er befand den Aushang der tagesaktuellen Zeitungsseiten am Druck- und Verlagshaus außerdem mehr als eine gute Werbung für sein Qualitätsblatt, mit besonderem Augenmerk auf die Anzeigenkunden, als einen Gnadenakt an die Einheimischen. Außerdem war es ihm eine Freude, mehrmals am Tag nachzuschauen, ob mit der ausgehängten Zeitung noch alles recht ist. Zuviel Tapetenleim tat dem Schriftbild nicht gut. Bei Regen musste die eine oder andere Seite ersetzt werden. Und an diesem 18. April trat er heraus und stieß bei seiner Kontrolle auf den Jungen, der sichtlich bemüht war, aus der Zeitung zu lesen. Er las so gewissenhaft, dass es Neider unmöglich erschien, ihn nicht anzusprechen.

„Na Bürschchen, sollst wohl für deine Mutter gucken, wo es das billigste Wellfleisch gibt“ (oder was in Hamburg die Butter kostet), waren die Worte, mit dem er dem Jungen nicht nur einen kleinen Schreck einjagte, sondern auch seine Leselust jäh unterbrach. Der Junge schaute den erkennbar wohlsituierten, in seinem Körperbau etwas untersetzten Mann erschrocken an. „Nein, ich lese etwas über Martin Luther“ entgegnete er ihm und fügte etwas kleinlaut an, „und ich habe gerade einen Fehler gefunden“. „Was, wo, das kann nicht sein“, widersprach ihm sein Gegenüber nun im Feldwebelton der kaiserlichen Armee. „Doch, hier steht, ,...die Vergangenheit und Gegenwart unserer deutschen Gechichte’...“ las der Junge langsam und betont vor, und wie er las, folgte er dem Erwähnten mit dem linken Zeigefinger, um, zack, beim Wort Geschichte einen Fingerpunkt zu setzten. Neider ging nah an die orthografische Unglücksstelle und ihm entfuhr: „Och ja, da hast du recht.“ Er blickte den Jungen an und nickte ihm scheinbar beeindruckt länger zu, um dann gleich an der Hintertür ins Haus zu verschwinden.

Und es konnte auf dieser Welt nur einen geben, nämlich den zweiten Akteur dieser Begegnung, der sich just in diesem gleichen Moment in einer exakten Distanz von 551 Kilometern von eben jenem Ereignisort entfernt, in Nouves-a-Plouge genau zur gleichen Zeit an genau das gleiche erinnerte.

Na, Bürschchen ...Was in Hamburg die Butter kostet... In diesen Wortfetzen war Helmut Tossmann gerade gefangen, als er jemanden brüllen hörte: „Schmidt, Hübner, Tossmann und Walter sofort zu mir!“ Und als wolle er für nur noch eine Sekunde dem Brüller widerstreben, dachte er weiter: Nun muss ich herausfinden, was französische Butter kostet. Tossmann richtete sich auf, zog die Uniform glatt und ging an den Eingang der Baracke. „So, ihr vier Pappnasen, ihr seid in fünf Minuten marschbereit, schließt euch dem zweiten Zug von Feldwebel Hepp an und wartet dort auf weitere Befehle! Verstanden? Verstanden?“ Und obwohl der Brüller des fetten Unterfeldwebels nicht zu überhören war, setzte er noch ein drittes, noch lauteres „Verstanden?!“ hinterher.

Wie befohlen gingen sie zur Gruppe von Feldwebel Hepp und trafen auf Soldaten, die auf einer Wiese saßen oder lagen. Von weitem noch wirkten sie wie ein Bühnenbild des Schrecklichen, dessen, was die vier Männer erwarten würde. Sie saßen und lagen wie Tote oder Sterbende. Den Korrektor beschlich ein unheimliches Gefühl, denn das waren die ersten Frontsoldaten, auf die er traf. Als die vier Männer ihr Ziel erreicht hatten, war er richtig froh, dass sich diese zerzausten Gesellen noch bewegten und noch am Leben waren.

„Seid ihr die Männer von Feldwebel Hepp“, fragte Hübner? „Schnauze halten, hinsetzen“, entgegnete ein rothaariger Soldat, der sich gerade mit dem rechten Zeigefinger den Dreck unter den Fingernägeln der anderen Hand wegpulte. „Abstand halten, zwei Meter, ihr Schafsköppe, sonst seid ihr schneller im Zirkus als euch lieb ist“, fuhr er fort. „Was vor’n Zirkus“, fragten Hübner und Schmidt wie im Gleichklang. „Flohzirkus, ihr Schafsköppe“, gab der Soldat lapidar zurück. Die vier begriffen, was er meinte und setzten sich in gebührendem Abstand zum Zirkusdirektor, wie Hübner den Ratgeber gleich betitelte. So schnell kommt man zu einem Spitznamen, stellte der Korrektor erstaunt für sich selbst fest und fragte nach, ob es sehr schlimm sei mit dem Viehzeug hier. „Alles schlimm hier“, antwortete der Soldat. „Flöhe nerven nur in der Bereitstellung hier oder in den Unterständen an der Bastille. Draußen im Graben merkst du die gar nicht, da haben die Viechters selber Schiss. Aber die Ratten, die gehen dir auf den Senkel. Wenn du einjeschissen und einjepisst hast, dann sind die an dir dran wie Scheißhausfliegen. Gut wenn ’ne Leiche da ist, da haben die dann was zu knabbern. Noch besser wenn’s ’n Franzmann ist, die sind fetter als wir, weil die besseres zu fressen kriegen.“ Mit, „ja, ja, ja, ja.“ beendete der Rothaarige seine Ansprache und fuhr gleich wieder fort: „Seid ihr schon leer jeschissen?“ Da er sich bei der Frage nach ihnen umdrehte, erfasste der Korrektor diese Frage nicht nur als Vulgarität und fragte deshalb „Was meinst’n damit?“ zurück. „Ich kacke wie immer“, gab Hübner in die Runde. „Na dann seid froh, ihr Schafsköppe“ entgegnete der Frontmann und fuhr fort: „Wir ham hier alle die Scheißerei, das hört nicht mehr auf. Wenn’s noch nicht angefangen hat, dann hört’s auch noch nicht auf. Ich meine, ihr müsst euch vom Stabsarzt was geben lassen, aber die ham ja selber nüscht mehr, die Kasperköppe. Wir ham alle ’n Propfen im Arsch, also passt auf, ihr Schafsköppe.“ Jedoch wurde die „medizinische Unterweisung“ des Zirkusdirektors harsch durch den Feldwebel unterbrochen.

„Zug angetreten, fertig machen zum Abmarsch“, brüllte Feldwebel Hepp seinen Soldaten und den vier Neuen zu. „Helm auf, Tornister auf, Gasmaske und Spaten am Mann, Gewehr schultern“, sprach Hepp, nicht mehr so laut. „Die vier Neuen zu mir vor, sofort. Ihr lauft hinter mir.“ Der Zug setzte sich schnell in Bewegung. Hepp drehte sich um und meinte: „Eure Gewehre kriegt ihr an der Bastille, das gab’s voriges Jahr auch noch nicht. Ohne Gewehr an die Front geschickt. Ohne Gewehre seht ihr aus wie Deserteure. Name und Geburt und Wohnort, meine Herren, aber zackig!“ „Musketier Tossmann, Helmut, 1. Januar 1900, Wittenberg; Musketier Schmidt, Wilhelm, 24. Juni 1900, Gardelegen; Musketier Hübner, Heinrich, 30. November 1899, Ziesar; Musketier Walter, Joachim, 5. April 1900, Beelitz“ antworteten die vier wie verlangt. Erstaunlicher Weise war das alles was der Feldwebel von ihnen, zumindest hier und jetzt, zu wissen verlangte.

„Der Korrektor“

„Der Korrektor“ ist der neue Roman, an dem der Wittenberger Verleger Mario Dittrich schreibt. Das erste Kapitel hat der Autor dem Elbe-Kurier der MZ zum Vorabdruck zu Verfügung gestellt.

In lockerer Folge erscheint der Text. Der komplette Roman soll im Sommer im Handel sein. (mz)