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Kreis Wittenberg Kreis Wittenberg: Ein wundervoller Obstgarten

Von HENRIK KLEMM UND UWE QUILITZSCH 27.09.2011, 16:46

WÖRLITZ/MZ. - Der Pfarrer aus Kleinfahner bei Gotha, einer der führenden Pomologen seiner Zeit und Herausgeber des Magazins "Der teutsche Obstgärtner", ist begeistert. Insbesondere, weil er hier - entgegen der Praxis in anderen englischen Gärten - "ganz unvermutet auf Abteilungen und Plantagen von schönem Kern- und Steinobst" trifft.

"Es scheint, als wäre man auf einmal in einen Obstgarten versetzt . Wie sehr muss dieses in der Blütezeit der verschiedenen Obstsorten, oder zur Zeit des Herbstes überraschen, wenn alle diese Obstbäume mit schönen Früchten behangen sind ... Überhaupt das ganze Anhalt-Dessauische Land ist einem einzigen großen Garten ähnlich . Die Chausseen sind überall mit Bäumen besetzt. Bald beschatten sie hohe Pappeln; bald Apfel, bald Birn, bald Kirschen und andere Bäume", schwärmt er.

Lernen für eine gute Ernte

Das kommt nicht von ungefähr. Fürst Franz von Anhalt-Dessau befördert den Anbau der Obstbäume, deren Pflege und Schutz. Sie sind nützlich und verschönern die Landschaft. Er sorgt dafür, dass Gärtner in den Baumschulen, auch Bauern im Land, alles Erforderliche über den Obstanbau lernen. Und dieser erlebt im Fürstentum eine deutschlandweit beachtete Blüte.

Hilfreich zum Bestimmen der Früchte - zu dieser Zeit gibt es beispielsweise tausende von Apfel- und Birnensorten und eine große Unsicherheit, sie zu benennen - sind neben Kunstdrucken Wachsmodelle aus dem "Pomologischen Cabinet", die das "Landes-Industrie-Comptoir" des Verlegers Friedrich Justin Bertuch in Weimar seit 1795 herstellt. So etwas gab es zuvor in Deutschland noch nicht.

Unternehmer Bertuch, ein Vertrauter von Fürst Franz und zudem kaufmännischer Direktor der Chalkographischen Gesellschaft, hat das Projekt gemeinsam mit Sickler auf den Weg gebracht. Es enthält "alle im Teutschen Obstgärtner beschriebenen Obstfrüchte Deutschlands, über die Natur selbst geformet, in Wachs mit möglichster Treue nachgebildet".

Insgesamt werden 26 Lieferungen von 1795 bis 1813 gefertigt. Fast alle enthalten zwölf Wachsfrüchte, so dass letztlich mehr als 300 auf die Reise zu den Kunden gehen. Jeweils 104 der Wachsmodelle zeigen Äpfel und Birnen, 39 Kirschen, 35 Pflaumen und 15 Pfirsiche. Geliefert werden zudem vier Aprikosensorten sowie die Hallische Riesennuss und die Birn-Mispel. Mit ihnen verspricht sich Sickler, Ordnung in der immensen Zahl verschiedener Obstsorten schaffen zu können.

Die Wachsfrüchte bringen gleichwohl auch Freude beim Betrachten, dienen zuerst jedoch der wissenschaftlichen und praktischen Unterrichtung, der Dokumentierung wichtiger Sorten. Sie sind in Gelehrtenstuben, seltener bei Obstbauern und in den herrschaftlichen Raritätenkammern zu finden. So auch im Gotischen Haus, dem Wohnort des Fürsten Franz.

Wann genau er sie sich hat bringen lassen, ist nicht belegt. Auf jeden Fall existieren heute noch Stücke aus allen 26 Lieferungen, was für eine kontinuierliche und umfassende Bestellung spricht. Etliche der doch sehr fragilen und innen hohlen Modelle sind jedoch verloren gegangen. Immerhin finden sich in Dessau und Wörlitz noch zirka 140 verschiedene Wachsfrüchte aus der Produktion von Bertuch, darunter solche mit Namen wie Kaiserbirn mit dem Eichenblatte, Rothes Seidenes Hemdchen, Hammelsbirn oder Rheinischer Bohnenapfel.

Zwei verschiedene Kabinette

Zur Dessauer Sammlung gehören indes noch zirka 50 Obstsortenmodelle aus dem "Pomologischen Cabinet" des Kaufmanns Heinrich Arnoldi. Es sind Nachbildungen von Äpfeln, Birnen und Pflaumen. Der Sohn des Gründers der Gothaer Versicherung beginnt 1856 gemeinsam mit dem Gartenverein Gotha und unter der wissenschaftlichen Kontrolle durch den Obstexperten Johann Georg Conrad Oberdieck mit der Produktion der Früchte. Sie bestehen nicht aus Pappmasse, nicht aus Wachs, sondern aus Porzellan. Gefertigt wird in einer Manufaktur im thüringischen Elgersburg. Und das erfolgreich. "Ich halte die Nachbildungen von Porcellain-Masse für das Gelungenste, was in dieser Art bis jetzt vorhanden ist", sagt beispielsweise Eduard Lucas, der im Luisium das Gärtnerhandwerk erlernt hat und in Reutlingen das erste pomologische Institut Deutschlands gründete.

Doch es gibt Probleme mit dem Produktionsstoff: "Durch weite, besonders überseeische Versendungen dieser Früchte stellte sich heraus, daß die Verwendung von Porcellain-Masse zu solchen Früchten wegen ihrer Zerbrechlichkeit nicht vorteilhaft, und daß die Verwendung einer weniger zerbrechlichen Masse unbeschadet der Natürlichkeit und Schönheit des Fabrikats wünschenswert sey. Es wurden daher vielseitige Versuche gemacht, eine Porcellain-Compositions-Masse zu beschaffen, die besagten Anforderungen entsprach und es glückte", heißt es in einer zeitgenössischen Veröffentlichung. 1859 wird umgestellt. Aus welcher Rezeptur die Masse besteht, ist bis heute ungeklärt, ließe sich jedoch durch entsprechende Materialuntersuchungen rasch ermitteln.

Unterschiedliche Materialien

Fest steht, dass in Dessau aus beiden Materialien gefertigte Stücke - es gibt bis Ende der 1890er Jahre insgesamt 76 Lieferungen mit 450 Obstsorten - existieren.

Summa summarum besitzt die Kulturstiftung Dessau-Wörlitz aus den pomologischen Kabinetten von Sickler / Bertuch und Arnoldi knapp 200 der seltenen historischen Modelle. Ähnliche Sammlungen finden sich in Deutschland nur noch in Bamberg, Weimar und Greifswald. Leider werden nur wenige davon im Gotischen Haus in Wörlitz und im Museum für Stadtgeschichte Dessau gezeigt. Der Großteil der Sammlung befindet sich im Depot der Stiftung. Und auch der Anbau des Obstes hat längst nicht mehr die Dimension wie Ende des 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Zwar müht sich die Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, an die Tradition anzuknüpfen. Es entwickeln sich gegenwärtig Obstwiesen auf dem Sieglitzer Berg oder im Luisium.

Vieles geht verloren

Auch der Förder- und Landschaftspflegeverein Biosphärenreservat Mittelelbe engagiert sich, hat einen Obstlehrpfad geschaffen, pflegt Streuobstwiesen und sorgt für Pflanzungen alter, regional bedeutsamer Baumarten. Doch an den Straßen sieht es eher traurig aus. Die Chausseen verlieren nach und nach das von Sickler vor über 200 Jahren geschätzte Antlitz.

Damals jedenfalls lässt er ganz Deutschland wissen: "Nirgends habe ich an den Bäumen, die auf den Seiten der Chausseen standen, die geringste Verletzung wahrgenommen, alles war in froh und fröhlichem Wuchse, ... welches mich alles außerordentlich freuete und das gute Vorurteil erweckte, daß die Menschen, die dieses Land bewohnen, sehr gute Menschen seyn, und von ihrer Obrigkeit, durch weise Gesetze, auf welche sie zu halten weiß, dahin gebracht seyn müssten, alles dieses unbeschädigt zu lassen, und sich selbst mit darüber zu freuen." FOTOS: KULTURSTIFTUNG