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Geschichte in der Lutherstadt Geschichte in der Lutherstadt: Türmerwohnung jetzt geöffnet

Von Corinna Nitz 15.08.2019, 03:00
Wie man sich bettet... Viel Komfort hatte die Wohnung nicht aufzubieten.
Wie man sich bettet... Viel Komfort hatte die Wohnung nicht aufzubieten. Thomas Klitzsch

Wittenberg - Zwei Treppen vor dem Ziel geht nichts mehr. Es ist keine Frage mangelnder Kondition, sondern von ausgeprägter Höhenangst, die plötzlich aber nicht unerwartet zuschlägt. Anna Otto hatte das Problem der Autorin gewiss nicht: Sie war die letzte Türmerin von Wittenberg, weit oben in der Stadtkirche befand sich ihre Wohnung. Um dort hinauf zu gelangen, musste sie 192 Stufen bewältigen - und die letzten beiden Holztreppen sind wirklich ziemlich steil.

Nur ein Dutzend

Die Türmerwohnung gehört zu den Highlights eines jeden Denkmaltages, denn dann darf auch die Öffentlichkeit hinein, respektive hoch hinaus - wenngleich die Teilnehmerzahl auf zwölf Personen pro Aufstieg begrenzt ist. Als Grund wird unter anderem der Brandschutz genannt, aber viel mehr als ein Dutzend passt ohnehin nicht in die Unterkunft, die sich seit kurzem wieder so präsentiert, wie sie zu Zeiten der Familie Otto ausgesehen hat. Zu danken ist das in erster Linie dem Heimatverein der Lutherstadt Wittenberg und Umgebung. Der hat seit einigen Jahren mit

der Stadtkirchengemeinde einen Nutzungsvertrag für die Wohnung: „Wir wollen Wittenberger Stadtgeschichte erlebbar machen“, sagt der Vorsitzende Bernhard Naumann zur MZ. Von einem „Museum zum Anfassen“ spricht Klaus Nunweiler vom Beirat des Heimatvereins.

Hochwohlgeboren?

Eine Grundsanierung der Türmerwohnung ist Naumann zufolge im Rahmen der letzten Generalsanierung der Stadtkirche erfolgt. Der Verein kümmerte sich um die Herrichtung etwa der Fußböden und Wände - in Absprache mit der Denkmalbehörde, schließlich befindet sich die Wohnung im Unesco-Welterbe. Wie viele Stunden sie gebraucht haben, vermag weder Naumann noch Nunweiler zu sagen. Auch Kosten kann letzterer bloß schätzen. Die Rede ist von 2500 bis 3000 Euro, nur an Materialkosten. Dass es insoweit auch viele Sachspenden gab, sagt er. Zudem führt der Heimatverein laut Naumann ein Spendenkonto für die Sanierung der Türmerwohnung. Diese erstreckt sich über zwei Etagen im Südturm, im Nordturm befindet sich die gute Stube, darin sie eine Ausstellung über das Leben der letzten Türmerin Anna Otto präsentieren. Auch ein Film ist zu sehen, er zeigt ein Interview mit Otto aus dem Jahr 1933. Da war Herrmann Otto schon tot und der Nachwuchs aus dem Haus. Sechs Kinder hatten die Eheleute, drei von ihnen erblickten das Licht der Welt in der Türmerwohnung, weshalb sie auch als Hochwohlgeboren bezeichnet werden. Mit dem Leben dieser Klasse hatte das Dasein in der Türmerwohnung nichts zu tun. Es gab kein fließend Wasser und keine Toilette. Was gebraucht wurde, musste über eine Winde vom Kirchplatz nach oben befördert werden. Das betraf Brennstoff ebenso wie etwa Lebensmittel. Und was infolge des Verzehrs von letzteren ausgeschieden wurde, fand seinen Weg per Winde nach unten.

Histörchen und Geschichten

So beschwerlich nun die Organisation des Alltags gewesen ist, so verantwortungsvoll war die Arbeit des Türmers beziehungsweise der Türmerin. Bis zum Einbau einer elektrischen Vorrichtung mussten sie die Glocken läuten. Sie hatten sich um die Turmuhr zu kümmern und sollten die Bewohner der Stadt vor Bränden warnen. Dafür musste unter anderem eine riesige Feuerflagge aus dem Turm in jene Richtung gehängt werden, in der sich der Brand befand. Die Flagge ist eines der Exponate in der Ausstellung, zur Verfügung gestellt von den Städtischen Sammlungen. Im Mittelalter oblag es dem Türmer übrigens auch, aufgrund seiner guten Fernsicht vor herannahenden Feinden zu warnen.

Da jedoch allem Anschein nach das Salär für die Türmer eher dürftig war, hat sich der letzte von ihnen, Herrmann Otto, laut Bernhard Naumann als Schuhmacher verdingt und so das Familieneinkommen etwas aufgebessert. Naumann sagt, es gibt viele Histörchen und Geschichten. Die kann auch Klaus Nunweiler erzählen. Manche hat nur indirekt mit den Ottos zu tun - eher betrifft sie Besucher mit Höhenangst, die gebe es immer mal wieder, jawohl. Von dieser Angst nicht betroffen sein mögen jene Jahrgangsbesten einer Wittenberger Schule, die laut Nunweiler oben ihre Zeugnisse ausgehändigt bekommen. Sachen gibt’s.

(mz)

Klaus Nunweiler vom Beirat des Heimatvereins in der Türmerwohnung
Klaus Nunweiler vom Beirat des Heimatvereins in der Türmerwohnung
Thomas Klitzsch
Mit Feuerflagge und -laterne wurde einst vor Bränden gewarnt.
Mit Feuerflagge und -laterne wurde einst vor Bränden gewarnt.
Thomas Klitzsch