Erinnerungen an Pogromnacht Erinnerungen an Pogromnacht: Vielfältige Erinnerung in Wittenberg

Wittenberg - Bundesweit begann am Donnerstag das Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938. Damals setzten Nazis im „Deutschen Reich“ Synagogen in Brand, zerstörten jüdische Geschäfte und Wohnungen. Juden wurden verhaftet, misshandelt, ermordet. Auch in Wittenberg wütete ein Mob.
Zu den Gedenkveranstaltungen in der Lutherstadt gehörten an diesem Donnerstag Projekte, die von Schülern des Luther-Melanchthon-Gymnasiums (LMG) mit Unterstützung etlicher Partner vorbereitet und umgesetzt wurden. Etwa hatte der Kunstkurs von Ulrike Kirchner am LMG wie berichtet lebensgroße Stelen entwickelt, die vor ehemaligen Wohnhäusern von Wittenberger Juden aufgestellt wurden. Eine stand vor dem Haus in der Lutherstraße 17 a und trug das Antlitz von Richard Wiener.
Besonderer Rundgang
Wiener, Ehrenbürger der Lutherstadt seit 2010, hatte sich 91-jährig aus den USA auf Einladung gen Deutschland aufgemacht. Nach einem Stopp in Berlin war er am Mittwoch in Wittenberg eingetroffen. Er habe, sagte er da zur MZ, seine Geschichte oft erzählt, aber noch nie geschah dies im engen zeitlichen Umfeld jener Schreckensnacht von 1938 vor dem Wohnhaus der Verwandtschaft in Wittenberg.
Wiener hatte die nachvollziehbare Sorge, „wieder diese Angst von damals zu spüren“. Nun stand er - aus logistischen Gründen - nicht direkt vor Haus Nummer 17, in dem seine Tante und der Cousin einst lebten. Dorthin aber begab er sich vor 80 Jahren mit seiner Mutter, weil die Nazis seinen Vater verhaftet hatten und man nicht allein sein wollte. Irgendwann flog der erste Stein...
Vor Schülern und etlichen Teilnehmern dieses „Rundgangs gegen das Vergessen“ sprach Wiener von „der schlimmsten Nacht meines Lebens“ und erinnerte auch daran, dass er einen Tag später, am 10. November 1938, vom benachbarten Melanchthon-Gymnasium geworfen wurde. Überhaupt waren Juden fortan praktisch vogelfrei. Wem es jetzt noch gelang, der flüchtete ins Ausland.
Bei allem Leid: Wiener betonte einmal mehr, er wolle „keine Sekunde“ seiner Vergangenheit anders haben. Was geschah, habe ihn zu dem gemacht, der er ist. 80 Jahre nach dem Furor der Novemberpogrome und viele Jahre nach seiner ersten vorsichtigen Rückkehr in die alte Heimat könne er dies sagen: „Ich bin ein Wittenberger und die Wittenberger sind meine Leute.“ Während Wiener dem Deutschland von heute eine Vorbildfunktion „für die Welt“ attestierte, zeigte er sich „überwältigt“ von dem Gedenk-Projekt.
Die Symbolik der Stelen-Ausführung erklärte eine der beteiligten Schülerinnen: Etwa habe man sich für lebensgroße Objekte entschieden, damit Betrachter mit den abgebildeten „Menschen auf Augenhöhe sein können und nicht nur über sie stolpern“, so Lea Marie Fischer, die auch das Porträt von Wiener auf Grundlage einer Fotografie entworfen hat.
Gegen 15 Uhr machte sich die Gruppe aus der Lutherstraße auf den Weg zur Mittel-/Collegienstraße zur zweiten der insgesamt fünf Stelen. Dort gab es eine Begegnung mit Ruth Friedmann, einer aus Israel angereisten Nachfahrin der Hirschfeldts. Die Stele, sie erinnert an Lilly Hirschfeldt.
Schicksale dahinter
Vor dem Rundgang ist die Erinnerung an das entsetzliche Geschehen vor 80 Jahren aufpoliert worden - buchstäblich. Rund 50 vor allem junge Menschen trafen sich, um die sogenannten Stolpersteine zu putzen, die - auf Gehwegen verlegt - an von den Nazis ermordete jüdische Wittenberger erinnern. Insbesondere Zehntklässler der Ganztagsschule Friedrichstadt und des Luther-Melanchthon-Gymnasiums beteiligten sich an der Aktion.
„So geraten die Steine und die Menschen nicht in Vergessenheit“, freute sich Pfarrer Johannes Block über die jungen Leute, die mit Schwamm, Wasser und Reinigungsmittel loszogen. „Das ist deutsche Geschichte. Wir müssen dafür sorgen, dass an sie erinnert wird“, begründen etwa die Gymnasiastinnen Lucy Werner und Anna Eggert, warum sie dabei sind. Sie wissen, dass nicht wenige Menschen mit den Stolpersteinen wenig anfangen können. Im Unterricht der Klasse von Bärbel Gauert ist zuvor nicht nur über die Gedenksteine, sondern auch über die dahinter steckenden Schicksale gesprochen worden.
Die Zehntklässler aus Friedrichstadt nutzen die Putzaktion nicht zuletzt für ein Projekt, an dem sie nach den Worten von Lehrer Michael Kunz schon länger arbeiten. Nämlich einen Rundgang zu entwickeln für andere Schüler - auf den Spuren der Wittenberger Stolpersteine.
Ein Ausblick
Zum Pogromgedenken in Wittenberg gehörte am Donnerstag auch eine Veranstaltung mit Schülern des Lucas-Cranach-Gymnasiums. Sie trugen „Lyrik gegen das Vergessen“ vor. Um 17 Uhr beginnt am heutigen 9. November im Alten Rathaus die Gedenkveranstaltung der Lutherstadt mit einem Zeitzeugengespräch, an dem Richard Wiener und Ruth Friedmann teilnehmen.
16 Uhr wird im Cranach-Haus Markt 4 die Ausstellung „Erinnerungen ans Schtetl“ eröffnet. Der 9. November in Wittenberg endet mit dem Gedenken am Mahnmal an der Stadtkirche (18.30 Uhr), wobei es drinnen um 18.45 Uhr ein Konzert mit hebräischen Melodien gibt und ab 21 Uhr die monatliche „Church@night“.
››Den fünf Stelen zur Seite gestellt waren am Donnerstag „Wächter“ aus den Reihen der Schülerinnen und Schüler des Luther-Melanchthon-Gymnasiums. Wie eine der Projektverantwortlichen, die Pädagogin Bärbel Gauert erklärte, sollten die Stelen abends in die Stadtkirche gebracht werden.
(mz)
