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Nach dem Fest Ein Jahr Luther-Jubiläum - wie geht es jetzt weiter?

Von Julius Lukas 30.04.2018, 08:00
Auch im Jubiläumsjahr 2017 wurde im Juni Luthers Hochzeit auf dem Markt in Wittenberg gefeiert.
Auch im Jubiläumsjahr 2017 wurde im Juni Luthers Hochzeit auf dem Markt in Wittenberg gefeiert. T. Klitzsch

Wittenberg - Eigentlich muss man mit dem letzten Eindruck von Wittenberg beginnen. Mit dem Ende des Besuchs der Stadt, die im vergangenen Jahr - Luther sei Dank - so oft im Fokus stand.

Und dieser letzte Eindruck ist einer, den Jürgen Crahmer bereits prophezeit hatte. Der 57-Jährige ist Gastronom, Immobilienbesitzer und im Vorstand des Wittenberger Gewerbevereins - ein Kenner der Stadt also.

Was bleibt nach dem Luther-Jubliäum in Wittenberg?

Mit ihm ist die MZ durch die Straßen gelaufen, auf denen einst der Reformator unterwegs war. Ein Spaziergang, um herauszufinden, was im Jahr nach Luther von der Jubiläumstrunkenheit der Festmonate geblieben ist.

Jener finale Eindruck also, den Crahmer zu Beginn des Wegs durch die historischen Gassen vorhersieht, ist dieser: „Das letzte, was Gäste aus Wittenberg mitnehmen, ist ein Knöllchen an ihrem Auto.“

Und tatsächlich. Etwa eine Stunde nach Crahmers Prophezeiung klemmen unter vielen Scheibenwischern auf dem Touristenparkplatz Strafzettel. Ein Abschiedsgruß der Reformationsstadt.

Wittenberg, die „kleinste Großstadt der Welt“

Im Grunde ist daran ja nichts auszusetzen. Wer seine Parkscheibe falsch einstellt, muss mit einer Verwarnung rechnen. „Im Jubiläumsjahr wurde das mit den Knöllchen aber ziemlich übertrieben“, meint Crahmer. Von vielen Gästen habe er gehört, dass schon kleinere Verstöße geahndet wurden.

„Und das, obwohl die Stadt weiß, dass die Parksituation in Wittenberg katastrophal ist.“ Ein Strafzettel - das mag wie eine Kleinigkeit klingen, profan und unbedeutend. „Doch wenn es das Letzte ist, was ich aus einer Stadt mitnehme, dann ist das tolle Konzert oder die begeisternde Ausstellung schnell vergessen.“

Crahmer steht, als er über den Knöllchen-Ärger spricht, am Startpunkt des Stadtspaziergangs: dem Brauhaus. Das Restaurant und Hotel liegt direkt am Markt.

Wittenberger: 2017 war purer Wahnsinn

Bis Ende 2017 hat Crahmer es betrieben. Nun gehört ihm nur noch die Immobilie. „Ich nehme mich erst einmal ein wenig zurück“, sagt der Gastronom. Denn das vergangene Jahr sei purer Wahnsinn gewesen.

Hunderttausende Gäste in der Stadt, fast jeden Tag Events - das habe viel Aufmerksamkeit gebracht. „Ich bin viel unterwegs und merke, dass die Menschen jetzt wissen, wo Wittenberg liegt.“

Jubiläumsjahr brachte Wittenberg neues Erlebnismuseum

Der erste Weg führt quer über den Markt zu einem Gebäude, dessen Fassade so weiß ist, dass man mit ihm für Zahnpasta werben könnte. „Futurea“ steht über dem Eingang. „Das ist das neue Erlebnismuseum“, sagt Crahmer.

2017 wurde es eröffnet. Ein neuer Anziehungspunkt in einer Stadt, die rein äußerlich sehr vom Jubiläumsjahr profitiert hat. Hinter dem Museum steckt SKW Piesteritz, das größte Industrieunternehmen der Stadt.

Am Rand von Wittenberg stellt der Chemiekonzern Stickstoffdünger her. Für zwölf  Millionen Euro hat SKW die beiden Bürgerhäuser in bester Lage, die zuvor in desolatem Zustand waren, in ein Museum umgebaut. Dessen Thema ist naheliegend: Vergangenheit und Zukunft der Stickstoffherstellung.

Chef des Wittenberger Chemiegiganten legt Finger in die Wunde

Der Chef des Chemiegiganten war es auch, der die Inspiration zum Spaziergang durch die Stadt gab. Mitte April sorgte SKW-Geschäftsführer Rüdiger Geserick für einen lokalen Paukenschlag. In einem Brief an Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos) mahnte er Initiativen zur Entwicklung der Stadt an, denn: „Nach dem Reformationsjubiläum besteht die Gefahr, diese günstige Ausgangsposition nicht zu nutzen“, schreibt Geserick.

Die Lutherstadt habe allein durch ihre Lage ausgezeichnetes Zukunftspotenzial als Scharnier zwischen den großen Metropolen Berlin und Leipzig - „wenn nicht ein Spaziergang durch die Innenstadt im Moment alles entzaubern würde“.

Wittenberg nach Reformationsjubiläum - vielerorts ist die Magie verflogen

Was Geserick meint, sieht man am Gebäude neben dem Erlebnismuseum. Dort ist die Magie verflogen. Der Putz bröckelt, die Fenster sind mit Werbung zugeklebt: „Wohnen, Leben, Arbeiten, Investieren in Wittenberg“, steht da in vielen Farben.

„Das ist eine Kampagne gegen den Leerstand“, erklärt Jürgen Crahmer. Über 40 Läden seien in der Innenstadt verwaist. Tendenz eher steigend.

Bei Daniel Pflug sind die Regale noch voll. Seine Modeboutique ist nur wenige Schritte vom Markt entfernt: „Wenn ich ehrlich bin“, sagt Pflug, „habe ich im vergangenen Jahr weniger Umsatz gemacht, als im Jahr zuvor.“

Wittenberger Einzelhandel profitierte vom Jubiläumsjahr kaum

So sei es vielen Einzelhändlern gegangen, denn die heimische Kundschaft habe sich kaum noch in die Stadt getraut. Und die Touristen, die da waren, hatten an Kleidung wenig Interesse. Die Euphorie ist der Ernüchterung gewichen, sagt Pflug. „Das Jubiläum hat der Innenstadt eigentlich nichts gebracht.“

Die Probleme der Einzelhändler sind nicht verwunderlich. Zieht man Luther ab, dann ist Wittenberg eine ostdeutsche Mittelstadt mit den Problemen, die solche Orte nun einmal haben: Leerstand, Einwohnerschwund und fehlende Wirtschaftskraft.

Wittenberger Entwicklungskonzept trotz Erschöpfung

2016 wurden Schüler der Stadt gefragt, wie sie zu Wittenberg stehen. Die wichtigste Erkenntnis dabei: Ihnen fehlt die Perspektive.

An der wird aber gearbeitet. „2017+“ hat Oberbürgermeister Zugehör sein Entwicklungskonzept genannt. „Es geht darum, Wittenberg als kleinste Großstadt der Welt zu etablieren“, sagt der Rathauschef.

Nach dem Jubiläum habe er bei vielen Beteiligten eine gewisse Erschöpfung bemerkt - auch bei sich selbst. „Dieses Jahr war ein großes Geschenk, es hat aber auch an den Kräften gezehrt.“

Trotzdem dürfe man sich jetzt nicht zurücklehnen. Die Vision ist, Wittenberg als lebenswerte Stadt zwischen den Metropolen zu positionieren. Als Ort, in dem die Arbeitnehmer aus den echten Großstädten wohnen.

Wittenberg will an Infrastruktur arbeiten

Dafür allerdings muss die heutige Infrastruktur gehalten und ausgebaut werden: Krankenhäuser, Schulen, Cafés und Verkehrsanbindung. Schon heute ist man mit dem Zug im schnellsten Fall in etwas mehr als einer halben Stunde in Berlin, Leipzig und Halle. „Das muss zum normalen Takt werden“, sagt Zugehör.

„2017+“ - für Jürgen Crahmer ist das nur ein schicker Titel. „Mir fehlt da noch der konkrete Inhalt“, sagt der 57-Jährige, der gerade zum nächsten Ziel geht: die Schloßkirche - Thesenanschlag, Weltgeschichte, für Millionen Euro saniert - wie vieles andere auch in Wittenberg.

Problem für Wittenberg: Touristen bleiben nicht lange

„Hier laden die Busse immer die Touristen ab“, sagt Jürgen Crahmer lapidar. In Wittenberg gibt es eine klassische Route, die eigentlich jeder Besucher absolviert. Von der Schloßkirche geradeaus über den Markt zum Lutherhaus, wo die Touristen wieder eingesammelt werden. Etwas mehr als ein Kilometer, der mit Besichtigungen und Mittagessen an einem halben Tag abgelaufen ist.

„Viel länger bleiben die meisten dann auch nicht“, sagt Crahmer. Wittenberg ist eine Stadt des Tagestourismus - das habe auch das Jubiläumsjahr nicht geändert.

Wer dem Strom der Touristen von Schloßkirche zu Lutherhaus folgt, bemerkt ein Detail. Die städtischen Blumenkästen, die überall hängen, sind leer. Wohl eine Sparmaßnahme, wird gemunkelt.

Wittenberger Kassen sind leer

Denn Wittenberg ist mit dem aktuellen Haushalt knapp an der Zwangsverwaltung vorbeigeschrammt. Nach der großen Party ist die Kasse leer - da geht es Städten wie Menschen.

Den Schwung des Jubiläumsjahres mitzunehmen, wird mit wenig Geld nicht einfacher. „Dabei müsste gerade jetzt weiter investiert werden, um in der Zukunft davon zu profitieren“, sagt Geschäftsmann Jürgen Crahmer.

Am Lutherhaus angekommen, warten dort bereits die Busse auf ihre Insassen. Allerdings wurde die Touristenroute durch das Lutherjubiläum etwas erweitert. Zwei Gehminuten entfernt liegt ein neu errichteter Rundbau, der kupferfarben das Sonnenlicht reflektiert.

Wittenberger Luther-Panorama als Zuschauermagnet

In ihm ist das Luther-Panorama des Künstlers Yadegar Asisi untergebracht. „Ein echter Zuschauermagnet“, sagt Crahmer. Über 400.000 Besucher hatten es Ende 2017 bereits angesehen. Auch jetzt, zum Abschluss des Spaziergangs, ist der Parkplatz voll. Und ein Knöllchen hat keines der Autos unter dem Scheibenwischer.

Mindestens die Panorama-Besucher fahren also mit einem positiven Eindruck nach Hause. (mz)