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Behinderung Behinderung: Neue Technik erleichtert Wittenberger den Alltag

Von Rainer Schultz 29.06.2016, 15:55
National bekannt: Das Blindenabzeichen zeigt an, wenn Menschen nichts sehen können.
National bekannt: Das Blindenabzeichen zeigt an, wenn Menschen nichts sehen können. dpa

Wittenberg - Andreas Leutloff, 50 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder, steht mitten im Leben. Was ihn von anderen unterscheidet: Leutloff ist von Geburt an blind. „Ein genetischer Defekt ist schuld daran“, beschreibt der Leiter der Selbsthilfegruppe des Blinden- und Sehschwachenverbandes, Regionalbereich Wittenberg, seine Situation. Für Menschen mit dem gleichen Handicap setzt er sich mit großem Engagement ein. Dies spürt der Zuhörer schon nach wenigen Sätzen.

Etwa 1,2 Millionen Blinde und Sehbehinderte leben in Deutschland. Als sehbehindert gilt, wer über nicht mehr als 30 Prozent der normalen Sehkraft verfügt. Menschen mit weniger als fünf Prozent sind „hochgradig sehbehindert“: Gegenstände werden erst ab fünf Metern erkannt - üblich sind 100. Blind ist man mit unter zwei Prozent Sehvermögen. Der Blinden- und Sehbehindertenverband Elbe-Mulde mit 800 bis 1000 Mitgliedern umfasst Wittenberg, Dessau, Jessen, Zerbst, Köthen und Bitterfeld. Sitz der Landesorganisation ist Magdeburg (Hanns-Eisler-Str. 5, 0391/ 2 89 62 39). (mz/rs)

Es ist wie immer mittwochs. Im Saal des Internationalen Bundes (IB) füllt sich allmählich der Raum. Einer der Stammgäste ist Achim Kubowitz, der für den Sport der Selbsthilfegruppe die Verantwortung trägt. Bowling ist eine der beliebtesten Disziplinen. Angela Nehring ist aus Dessau angereist. Sie führt die Beratungsstelle in der Muldestadt. Als Sehbehinderte kennt sie die Probleme. Da sind Behördengänge, unzählige Formulare auszufüllen. „Für ältere Menschen ist das eine riesige Herausforderung, die sie ohne unsere Hilfe nicht bewältigen“, beschreibt Leutloff den Alltag.

Vieles ist heutzutage mit moderner Technik selbstständig zu bewältigen. Da wäre die sprechende Küchenwaage, die, beim Backen eingesetzt, das Gewicht ansagt. Oder die zweite Tonspur im Fernsehen, die detailgetreu die Handlung eines „Tatort“-Krimis beschreibt und aktuell die Teilhabe an der Fußball-EM mit ihrer tollen Atmosphäre ermöglicht. Diese sogenannten Alltagshilfen sind inzwischen unentbehrlich geworden.

„Möchten Sie mal das I-Phone mit Blindenfunktion kennenlernen und hören?“, macht Leutloff neugierig. Stolz spricht aus seinen Worten bei dieser neuesten Errungenschaft. Der Umgang mit den neuen Medien ist für Leutloff kein Buch mit sieben Siegeln. Mit „Voice over“, einem integrierten Sprechcomputer, ist er für alle Lebenslagen gewappnet, sei es beim Fahrplan der Bahn oder einer Wegbeschreibung. Alles lässt sich per App realisieren. Dass man auch das beliebte „Mensch ärgere dich nicht“ als Nichtsehender spielen kann, wird schnell mal demonstriert.

Eine Vertiefung im Brett für die Steine. Diese wiederum ist mit unterschiedlichen Oberflächen gestaltet und lässt schnell Spielleidenschaft entstehen. Regelmäßig nutzt der wissbegierige Wittenberger zudem die Blindenbücherei in Leipzig und Marburg.

Mobil sein auch als Blinder, das ist für Andreas Leutloff ganz wichtig. „Demnächst fahre ich mit meiner Familie an die Nordsee. Meeresrauschen, Wind und das Salz auf den Lippen spüren. Darauf freue ich mich schon jetzt“, beschreibt er seine Gefühle.

Wie ist es in der Stadt Wittenberg mit der Barrierefreiheit bestellt? Eine Frage, die sich bei einem solchen Thema zwangsläufig ergibt. „Wir können uns nicht beklagen“ lobt Leutloff die Stadt. „Auch beim Festumzug ,Luthers Hochzeit’ konnten wir dank der Kommentierung des Ganzen einen guten Eindruck bekommen.“ Das Stadtmodell von Wittenberg - mit Blindenschrift (Braille) versehen - zähle ebenfalls zu den positiven Beispielen.

Eines jedoch stört ihn: die fehlende Lobby für Blinde und Sehbehinderte in der Bundespolitik. Am Blindengeld wird geknapst. „Ich würde gern einmal 30- oder 40.000 Menschen mobilisieren, um unseren Protest vor dem Bundestag zu artikulieren. Doch das scheitert im Gegensatz zu anderen Gruppen an der Mobilität unserer Leute“, sagt Leutloff - entschlossen, zugleich aber auch resignierend.

Wenn sich einmal im Monat die Selbsthilfegruppe am Mittwoch trifft, ist für Diskussionsstoff stets gesorgt und die nächsten Pläne für gemeinsame Unternehmungen werden geschmiedet, so auch bei dieser Zusammenkunft. (mz)