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Behindertenverband in Wittenberg Behindertenverband in Wittenberg: Fragezeichen im Ratssaal

Von Irina Steinmann 16.05.2019, 13:03
Franziska Buse, die Vorsitzende des Wittenberger Stadtrats, erläutert ihren Gästen die Arbeit des Gremiums. Sonst sitzt sie oben.
Franziska Buse, die Vorsitzende des Wittenberger Stadtrats, erläutert ihren Gästen die Arbeit des Gremiums. Sonst sitzt sie oben. Thomas Klitzsch

Wittenberg - Einfach erklärt reduziert sich die Politik auf das Wesentliche. Ob sie die Entscheidungen allein treffe, will einer aus der Gruppe von Franziska Buse wissen. Das darf sie natürlich nicht, sagt die Ratsvorsitzende, die Mehrheit entscheidet, „das ist dann Demokratie“. Und zuvor gelte es, „Gemeinsamkeit herzustellen“, so Buse, damit die Entscheidung von möglichst vielen Stadträten getragen wird.

Grundkurs in Demokratie

Der kleine Grundkurs in Demokratie auf kommunaler Ebene findet am Dienstag um 16 Uhr im Großen Saal des Alten Rathauses statt. Zu Gast bei Buse sind die „Flinken ???“ des Behindertenverbandes, eine Gruppe zumeist noch junger Erwachsener mit geistiger beziehungsweise mehrfacher Behinderung.

Begleitet von vier Betreuerinnen, darunter zwei Ehrenamtliche und die Leiterin des Familienentlastenden Dienstes Claudia Altekrüger, wollen die sieben Männer und Frauen wissen, wie der Stadtrat arbeitet. Anlass dieses Ausfluges ist eine bundesweite Gesetzesänderung, die künftig allen Behinderten das Wahlrecht verleiht.

Einige aus der Gruppe haben bisher schon gewählt, wie sie berichten, Gaby Peschke etwa oder Florian Lange. Lange kann auch mit dem Begriff „Fraktion“ etwas anfangen, den Buse benutzt, um die an diesem Tag natürlich leeren Sitzreihen den jeweiligen Parteien zuzuordnen. Selbst den NPDler von der letzten Bank vergisst sie dabei nicht, obwohl der in den letzten Monaten der nun zu Ende gehenden Legislatur nur noch durch Abwesenheit glänzte.

„Man sucht sich in der Fraktion Themen oder nimmt solche der Bürger auf“, umreißt die Christdemokratin, was inhaltlich angesagt ist, wenn der Stadtrat zusammenkommt, was in der nächsten Woche ausnahmsweise gleich zweimal geschehen wird, weil dem Stadtentwicklungskonzept ISEK am Dienstag eine Sondersitzung gewidmet ist vor dem regulären Plenum am 22. Mai.

Auch dies berichtet die Stadtratsvorsitzende ihren Gästen, die freilich vor allem an handfesten Dingen interessiert sind. Ob sie, Buse, aus Wittenberg sei, wollen sie wissen und wie lange das Alte Rathaus schon steht. Da muss die gebürtige Hallenserin, die dem Stadtrat seit 2010 angehört und ganz bestimmt als Wittenbergerin bezeichnet werden darf, kurz passen.

Dass das Haus fast „so alt wie Luther“ sei, wie jemand als Orientierung vorschlägt, sorgt für erstauntes Raunen, ebenso Buses Ausführung, dass man unter drei Stunden nicht nach Hause geht und es bei noch längeren Sitzungen zu essen und zu trinken gibt, weil es eben doch auch „anstrengend“ sei.

Eine Anstrengung, die Behinderte bisher nicht auf sich nehmen; unter den 40 Stadträten gebe es niemanden mit Handicap, sagt Buse, verweist allerdings auf das Engagement von Behinderten-Vertretern wie Klaus Götz und Elisabeth Kaiser in den Ausschüssen des Stadtrats.

Dass auch sie wie alle Bürgerinnen und Bürger jederzeit und ohne Anmeldung die Ratssitzungen besuchen dürfen - und, falls Rolli-Fahrer, sogar direkt im Saal sitzen dürfen und nicht hinauf müssen auf die Besucher-Tribüne - nehmen die Gäste interessiert zur Kenntnis. Franziskas Buses eigenhändige Suche nach einem Behinderten-WC läuft allerdings stracks ins Leere - das denkmalgeschützte Haus ist kein Ausbund an Behindertenfreundlichkeit, immerhin aber kann man das Erdgeschoss von der Rückseite her über eine Rampe erreichen und von dort per Lift in die oberen Etagen fahren. Vielleicht wird das jetzt ja öfter geschehen.

Nächste Woche in Coswig

Eine Verbesserung der „Teilhabe am öffentlichen Leben“, wie es Claudia Altekrüger formuliert, ist auch sonst das erklärte Ziel der „Flinken ???“, die sich in verschiedenen Gruppen einmal wöchentlich treffen und dann, nicht immer aber häufig, einen Ausflug machen. Festgelegt würden die Veranstaltungen von der Gruppe selbst in einem Jahresplan, zudem werde eine Chronik geführt über das Erlebte. Letzte Woche war Disko im „Flower Power“, am nächsten Dienstag werden „Flinke ???“ nach Coswig fahren, in die Zentrale des Naturparks Fläming, um dort, so Altekrüger, selbst Tipps zur Barrierefreiheit zu geben.

Auch Florian Lange wird wohl wieder dabei sein. Der Mittdreißiger war ein junger Mann von 18 Jahren, als ein Autounfall sein bisheriges Leben durchkreuzte. „Sonst wär ich jetzt nicht hier“, sagte er der MZ.

Das Angebot des Behindertenverbandes steht allen Betroffenen offen, abgerechnet wird mit den Krankenkassen. Kontakt: Tel. 03491/6957830

(mz)