Begegnung mit Originalen Begegnung mit Originalen: Reliqiuen für die Seele in Wittenberg
Wittenberg - Was muss das für ein Gedränge gewesen sein vor etwas über 500 Jahren. Genaue Zahlen sind nicht überliefert. „Als Indiz gibt es aber Belege, dass Landsknechte angestellt wurden, die Straßen freizuhalten“, sagt Mirko Gutjahr. Und das alles, um einen oder mehrere Blicke auf Reliquien beziehungsweise deren Gefäße zu erhaschen, wofür die Seele dann weniger Zeit im Fegefeuer zubringen musste.
Was einst gezeigt wurde am Sonntag Misericordias Domini (dem zweiten Sonntag nach Ostern), später auch an Allerheiligen, ist im sogenannten Heiltumsbuch überliefert. Und das stellt Gutjahr, Archäologe und Historiker, einem Dutzend Zuhörer vor, die am Sonntag ins Restaurant „von Bora“ gekommen sind.
Hier gibt es, entgegen dem Titel der Veranstaltung „Begegnung mit Originalen“, erst einmal die Kopie, bevor die Neugierigen mit Gutjahr in die Ausstellung des Lutherhauses gehen und das über 500 Jahre alte Buch selbst in Augenschein nehmen können.
Heilige als Fürsprecher
Doch zuerst gibt es bei Kaffee und Kuchen die geballte Ladung an spannenden Informationen über Reliquien, deren Erwerb und „Verpackung“ in ansehnliche und teure Behältnisse. „Die Idee ist ja, dass Heilige als Fürsprecher im Himmel auch auf der Erde präsent sind“, erklärt der Experte das große Interesse an diesen Dingen. „Heilige haben ihren Körper auf Erden zurückgelassen, er dient sozusagen als Antenne in einer Mittlerfunktion.“
Die Sonderausstellung „Bauen für Luther 1998 – 2018. Wittenberg - Eisleben - Mansfeld“ im Augusteum neigt sich dem Ende entgegen. Noch bis 4. November können Besucher die Schau erkunden. Das bedeutet auch, dass am 1. November die letzte Fachführung stattfindet. Wer tiefer in die Thematik der authentischen Lutherstätten mit ihren modernen Erweiterungsbauten eintauchen möchte, ist am 1. November um 16 Uhr zur Führung „Denkmalpflege durch Addition – Neues Bauen für Museen“ eingeladen. In den letzten Jahren stand die Stiftung Luthergedenkstätten vor der Aufgabe, die Reformationsstätten zu sanieren und modernen Anforderungen anzupassen. Dies geschah oftmals durch das Hinzufügen von Neubauten, die das historische Gebäude entlasteten. Anmeldung unter [email protected] oder telefonisch 03491/4203171.
Schon ab dem 2. Jahrhundert gibt es Berichte, wonach Menschen zu den Gräbern von Petrus und Paulus pilgerten. Einige Jahrhunderte später wurde die Heilswirkung auch kleinster Partikel von Heiligen propagiert. „Es gab regelrechte Verteilungskämpfe“, weiß Gutjahr zum Beispiel die Geschichten um die Drei Heiligen Könige aus Köln zu berichten. In Wittenberg habe es jedoch keine „geraubten Heiligen“ gegeben. Hier hatte sich Kurfürst Friedrich der Weise als eifriger Reliquiensammler erwiesen.
Damit er auch gedruckt vorweisen konnte, was in seinem Besitz war, ließ er 1509 das Heiltumsbuch herstellen, aufwendig illustriert durch Holzschnitte von Lucas Cranach dem Älteren. 5 005 Reliquien in 147 Reliquiaren sind darin verzeichnet. Einige stammen noch von Friedrichs Vorgängern, den Askaniern, wie etwa ein Dorn aus der Dornenkrone von Christus, der über Rudolf I. oder den II. (genau weiß man es nicht) nach Wittenberg gelangte. 1493 bereiste Friedrich selbst das Heilige Land.
Erhalten: ein Schreizettel
Alle diese Reliquien, 1520 war die Zahl auf fast 19 000 gestiegen, wurden bei sogenannten Heiltumsweisungen den Gläubigen gezeigt. Gutjahr zeigt eine Abbildung aus Nürnberg, wo das Volk vor einem Gerüst steht, oben werden von Prälaten in mehreren Gängen die Reliquiare vorübergetragen. Einer der Prälaten hält einen „Schreizettel“, er verkündet, was gerade gezeigt wird und wie viel Ablass es dafür gibt. Ein solcher Schreizettel ist auch in Wittenberg erhalten geblieben.
„Ursprünglich waren es hier für jede Reliquie hundert Tage. Doch Friedrich gelang es, dies durch päpstliche Erlaubnis auf hundert Jahre zu steigern“, so der Historiker. Der Ablass war dazu da, die Sündenstrafe zu erlassen. Je mehr, desto besser. „Keiner wusste, wie lange seine Seele für ein Vergehen im Fegefeuer bleiben musste. Es gab keinen ,Leistungskatalog’ oder ähnliches.“
Bei den Abbildungen aus dem Buch, von denen Gutjahr einige vorstellt, tauchen unter den Zuhörern Fragen auf. Wie groß das Einzugsgebiet der Gläubigen war, die diese Heiltumsweisung in Anspruch nahmen, will ein Mann wissen. Das sei nicht klar, dürfte aber mindestens die Größe Sachsens besessen haben, vermutet Gutjahr. Schließlich hatte Friedrich der Weise dem Dominikaner Tetzel den Verkauf seiner Ablassbriefe in ganz Sachsen verboten.
Die Weisungen habe es bis 1519 vor der Schlosskirche gegeben, bis 1522 noch drinnen. „Nach Friedrichs Tod hat sie sein Bruder Johann heimlich nach Torgau schaffen lassen. Die Reliquiare wurden wohl auseinandergenommen und zum Materialwert verkauft.“ Was die Reliquien selbst betrifft, kann auch Gutjahr nur raten. Einen offenen Handel gab es jedenfalls nicht. Vielleicht wurden sie begraben. Geblieben sind das Buch und Druckplatten von einem Nachdruck im Jahr 1617, „als Beleg, wie verdorben die Kirche damals war“. (mz)