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Auswirkungen des Bahnstreiks Auswirkungen des Bahnstreiks: Chaos vor dem Chaos in Wittenberg

Von Irina Steinmann und Klaus Adam 15.10.2014, 17:32
Die Gymnasiastinnen Marlen, Carmen und Pia warten am Jessener Bahnhof auf ihre Verbindung, müssen dann aber doch zur Bushaltestelle.
Die Gymnasiastinnen Marlen, Carmen und Pia warten am Jessener Bahnhof auf ihre Verbindung, müssen dann aber doch zur Bushaltestelle. Christel Lizenz

Jessen/Wittenberg - Was die GDL kann, muss sich das Unternehmen Deutsche Bahn AG gedacht haben, das können wir schon lange. Bereits viele Stunden vor Beginn des gefürchteten Streiks der Lokführergewerkschaft heißt es „rien ne va plus“ (nichts geht mehr) im Fernverkehr von und nach Wittenberg. Vor allem Berufspendler reiben sich, nach dem Schock am Vorabend, als die GDL den ersten richtig langen, richtig gemeinen Tagsüber-Streik ankündigte, verdutzt die noch müden Augen.

Voll ins Messer

Viele von ihnen hatten sich vorgenommen, früher als sonst zur Arbeit zu fahren, um die bevorstehenden Streikauswirkungen wenigstens etwas zu mildern. Sie laufen voll ins Messer. Bereits seit Mitternacht gelte ein „besonderer Fahrplan“, informiert unterdessen die Deutsche Bahn AG in einer Pressemitteilung (auch) über die Totalausfälle der ICE zwischen Morgen und Mittag auf dieser Strecke.

Die Deutsche Bahn richtet eine kostenlose Hotline ein. Unter der Telefonnummer 08000-996633 können sich Bahnfahrer über Zugausfälle und Verspätungen informieren. Zusätzlich können sich Bahnreisende auf der Seite www.bahn.de/aktuell informieren. Meldungen für Ausfälle in NRW finden Reisende hier, für Sachsen-Anhalt hier. Die Bahn rät zusätzlich, kurz vor Beginn der Fahrt den DB-Navigator aufzurufen unter reiseauskunft.bahn.de.

Ja. Bei einer Stunde Verspätung muss das verantwortliche Bahnunternehmen 25 Prozent des Fahrpreises erstatten. Bei zwei Stunden Verspätung sind es 50 Prozent. Maßgeblich ist dabei immer die Ankunftszeit am Zielort: Verpasst ein Bahnkunde durch die nur fünfminütige Verspätung eines ersten Zuges seinen Anschluss, so dass er erst nach einer Stunde am Ziel anlangt, erhält er eine Entschädigung in Höhe von 25 Prozent des Fahrpreises. Wird eine Übernachtung nötig, muss die Bahn die Kosten für ein Hotelzimmer tragen. Der Aufpreis für den ICE-Sprinter wird schon ab 30 Minuten Verspätung des Sprinters erstattet.

Besitzer von Streckenzeitkarten erhalten bei Verspätungen von einer Stunde und mehr pauschale Entschädigungen. Bei Zeitkarten im Nahverkehr gibt es in der zweiten Klasse 1,50 Euro. Dabei gilt allerdings eine Bagatellgrenze von vier Euro. Bahn-Kunden mit Zeitkarten im Nahverkehr erhalten also nur eine Entschädigung, wenn mindestens drei Verspätungen von mindestens 60 Minuten im Gültigkeitszeitraum der Fahrkarte nachgewiesen werden. Grundsätzlich werden bei Zeitkarten maximal 25 Prozent des Fahrkartenwertes erstattet. Im Fernverkehr werden pauschal fünf Euro gezahlt.

Zeichnet sich eine Verspätung von mehr als einer Stunde ab, kann der Reisende auf die Fahrt verzichten und den kompletten Fahrpreis zurückverlangen. Ebenso kann er die Fahrt zu einem späteren Zeitpunkt beginnen und dann auch eine andere Streckenführung wählen.

Das Beschwerdeformular ist in den Servicezentren der Deutschen Bahn oder im Internet unter www.fahrgastrechte.info erhältlich. Das Formular können Reisende in den Fahrkarten-Verkaufsstellen an den Bahnhöfen einreichen. Die Bahn muss Beschwerden von Fahrgästen nach spätestens einem Monat bearbeitet haben. Bei Streitfällen vermittelt die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP) zwischen Kunden und Unternehmen. Entschädigungen muss die Bahn auf Wunsch bar auszahlen, ansonsten per Gutschein oder Überweisung.

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass bei Streiks im Luftverkehr höhere Gewalt vorliegt. Also gilt die EU-Fluggastrechteverordnung, die Entschädigungen vorsieht, nicht. Im Bahnverkehr ist das anders: Die Bahn kann bei Streiks oder Unwettern keine höhere Gewalt geltend machen. Seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes aus September 2013 ist sie dazu verpflichtet. Bahnchef Rüdiger Grube hat sich vergeblich um eine Änderung bemüht.

Ortswechsel. Berlin, Bahnhof Südkreuz. Auf dem Bahnsteig steht verloren ein Wittenberger Pendlergrüppchen, jene, die auch an einem Tag wie diesem nicht geschmeidig ins Home Office schlüpfen können. Der Fitnesstrainer, die Journalistin, der Mitarbeiter eines Piesteritzer Werks schmieden Pläne für die Rückkehr, während sie auf den Zug warten, der sie anstelle des ICE nach Wittenberg bringen soll. Der Regionalexpress hat „betriebsbedingt“, was sonst, 70 Minuten Verspätung. Nur deshalb erreichen sie ihn ja auch noch. Alle bis auf den Bäcker, der müde von der Nachtschicht in Berlin kommt und zurück nach Hause nach Wittenberg will. Der sitzt noch in der S-Bahn, als der Zug einfährt.

Der Schaffner lässt sich nicht erbarmen, die Mitreisenden können ihm die eine Minute, die der Bäcker noch bräuchte, nicht abhandeln: Wenn der Zug pünktlich gefahren wäre, dann hätte der den Anschluss ja auch nicht bekommen, übt sich der Bahnbedienstete in Brachiallogik. Abfahrt! Kaum in Wittenberg angekommen, nimmt der Regionalexpress, der wegen der langen Verspätung sogar den Takt hält, einen Schwung verhinderter ICE-Fahrgäste auf und fährt zurück gen Rostock. Kurz nach halb 10 Uhr ist der Hauptbahnhof fast verwaist.

Ein Ehepaar winkt den Enkeln nach, die ungeplant per Bummelzug entschwinden, in Berlin sollen sie Anschluss nach Hamburg haben, erzählt die Frau und schüttelt verärgert den Kopf. Der Streik beginne doch erst um 14 Uhr? Was soll das alles? Und überhaupt, diese Bahn... „Jeder möchte mehr Geld haben“, sagt sie mit Blick auf den Streik, „aber dafür fehlt der Service.“

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Im Wittenberger Reisezentrum ist es zu diesem Zeitpunkt ruhig. Die Mitarbeiterin könnte den Reisenden auch nicht allzuviel sagen. Außer dass alle ICE ausfallen, so steht’s in ihrem Internet. Und das ist erst der Anfang. Konsterniert stehen Reisende kurz vor halb zwei an Gleis 1: Auch der Regionalzug um 13.27 Uhr fährt schon nicht mehr. Marcelo Bianco, Doktorand des Bauingenieurwesens in Weimar, versteht die Welt nicht mehr. Im Reisezentrum in Weimar haben sie ihm genau diese Verbindung nach Berlin doch ausgedruckt! Und wieso beginnt in Deutschland ein Streik so lange vor dem Streik?

Außerplanmäßiger Zug

Auch Veronika Lerche aus Bülzig muss deshalb umdisponieren. Gerade noch hatte sich die 17-Jährige vom Luther-Melanchthon-Gymnasium gefreut, heute mal früher Unterrichtsschluss zu haben. Zum Glück hat sie Verwandte in Wittenberg. Bianco und die anderen verhinderten Berlinreisenden soll ein außerplanmäßiger ICE dann aber doch noch in die Hauptstadt bringen. Planmäßig und pünktlich fährt der 13.46er nach Halle ab. Und er gehe davon aus, dort auch anzukommen, sagt ein freundlicher Lokführer. Wenn nichts im Weg liegt...

Auf Handzetteln, die im Wartesaal ausliegen, versucht die GDL um Verständnis für ihr Anliegen zu werben. Es gehe ihr auch um eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf, heißt es darin. Kraftlos-zynisches Grinsen bei den Pendlern, die sowas im Grunde auch ziemlich gut fänden.

Zug kommt, Zug kommt nicht

Gut findet auch die Annaburgerin Sarah Bönisch, dass sie ihren Zug von Jessen ab 12.11 Uhr nach Hause bekommt. Die zwei Minuten Verspätung machen sich im Vergleich zu anderen Betroffenen aus, wie die sprichwörtlichen Peanuts. Ganz optimistisch hatte sie sich nach der Arbeit mit ihrem Fahrrad erwartungsfroh auf den Bahnsteig gestellt. Wenn der Zug nicht gekommen wäre, „dann wäre ich heimgeradelt“, meint sie. Nach Annaburg, da geht das noch. Eine andere (potentielle) Reisende zieht sich eine Fahrkarte aus dem Automaten. Sie möchte nach Wittenberg. Noch zeigt das elektronische Anzeige-Laufband keine Einschränkungen an.

Zwei Stunden später sieht das schon anders aus. „Das kann doch nicht wahr sein“, stöhnt eine Frau an gleicher Stelle. „Na dann gehe ich halt wieder nach Hause.“ So dringlich scheint ihre Fahrt in Richtung Annaburg wohl nicht zu sein. Auch eine Schülergruppe räumt den Bahnsteig und wechselt zur Bushaltestelle gegenüber. Um diese Zeit können sie hier auf eine Alternative hoffen, wissen sie eigentlich.

Das Spiel soll so weiter gehen. Zug kommt, Zug kommt nicht. Der um 16.49 Uhr nach Wittenberg fährt. „Ich habe im Internet nachgeschaut“, meint eine junge Frau, die als Einzige einsteigt. Doch, „der eine Stunde zuvor fuhr nicht“. (mz)