Adventskalender Adventskalender: Türchen 23: Warten im Hauptberuf

Wittenberg - Einen Ort wie die eigene Westentasche zu kennen, sagt man leichthin. Im Ernstfall kommt man dann aber doch manchmal ins Grübeln. Jürgen Selig kann das nicht passieren. Es reicht, ihm einen Wittenberger Straßennamen zu nennen und kaum hat man die Hausnummer hinzugefügt, da hat der Mann seinen Wagen schon gestartet und los geht die rasante Fahrt. „Zügig aber sicher“, so lautet das Motto des Taxifahrers.
So hält er es seit 1994, dem Start seines mobilen Dienstes in der Lutherstadt, erst bei anderen Taxiunternehmern, seit 2000 selbstständig. Ein Lenkrad hatte Selig freilich schon Zeit seines Berufslebens zwischen den Händen, in 20 Jahren bis 1992 als Berufskraftfahrer auf einem Lkw. Nun ist er 66 und sitzt noch immer hinterm Steuer. „Ich muss arbeiten, von der Rente kann ich nicht leben“, sagt er. „Man muss Prioritäten setzen. Nur Bares ist Wahres.“ Und die Bude würde ihm zu Hause ja ohnehin auf den Kopf fallen.
Da lernt er lieber viele Leute kennen, meist Fremde, auch wenn die Bekanntschaft nur Minuten dauert. Meist bleibt ihm nicht mehr als ein erster Eindruck, eine flüchtige Erinnerung. Manchmal wird aus einer Fahrt aber auch eine langfristige Beziehung, ein Stammkunde.
Gerade steigt eine solche Kundin wieder ein. Jürgen Selig steht an seinem Stammplatz, am Hauptbahnhof. In wenigen Minuten geht es zur Krankenkasse, später holt er die Kundin auch wieder dort ab. „Ich finde es gut, wenn man sich kennt“, sagt die Frau noch und zückt das Portemonnaie. Ein vergleichsweise kleiner Betrag nach langer Wartezeit.
Auf den Tisch kommt zu Heiligabend Kartoffelsalat mit Würstchen und Bouletten. Das war schon bei meinen Eltern Tradition. An den Feiertagen gibt es Kaninchen und Gänsekeulen. Dafür ist meine Frau zuständig, denn das einzige, das ich kann, sind Spaghetti.
Weihnachten bedeutet für mich Nepp. Eigentlich ist es doch ein Tag wie jeder andere und für mich kein Highlight des Jahres, sondern eher Gewohnheit. In der Familie kommen wir auch über das Jahr an jedem Sonntag zusammen, das ist bei uns nicht nur Weihnachten so.
Nicht verzichten möchte ich auf nichts bestimmtes. Da fällt mir auf Anhieb gar nichts ein. Alles, was es Weihnachten gibt, kann ich auch sonst haben, da muss ich nicht warten.
Die größte Weihnachtskatastrophe wäre, wenn der Familienbund auseinander brechen würde. Dass alle gesund bleiben, ist das Wichtigste.
Warten, das ist für den 66-Jährigen noch mehr Beschäftigung als Fahren. „Es wird immer weniger, die meisten Leute laufen eben“, merken er und seine Kollegen, die sich im Pflichtfahrgebiet an die Preisvorgaben halten müssen, die der Landkreis bestimmt. Viel zu selten sind deshalb Fahrten, die auch mal über die Stadtgrenze hinaus gehen und lohnenswert sind. Eine Fahrt zum Flughafen ist solch ein Glücksfall, aber „da muss es ein Fahrgast schon sehr eilig haben“. In Erinnerung bleibt dem Taxifahrer die Tour in ein Krankenhaus im Süden der Republik. Über 600 Euro waren der Lohn, „auf dem Rückweg habe ich La Paloma gepfiffen“.
Nach Pfeifen ist dem Wittenberger jedoch nicht immer zumute. Wenn er auf den nächsten Fahrgast wartet, bleibt viel Zeit für Gespräche mit den Kollegen. Und dann regen sich die Männer auch gerne mal auf. Beispielsweise über das Taxifahrverbot in der Innenstadt. „Das ist für uns ganz schlecht“, sagt Selig, und den Kunden sei es schwer zu erklären, „dabei liegt es gar nicht an uns“. Seit diese Regelung gilt, habe sich bei allen Taxifahrern ein finanzieller Einbruch bemerkbar gemacht.
Jürgen Selig helfen da auch nicht die vielen Scheine ausländischer Währung auf seinem Armaturenbrett. „Mit einem Dollar hat es angefangen“, weiß er noch. Ein Fahrgast gab ihm diesen, als er sagte, noch nie einen solchen Schein gesehen zu haben. Inzwischen habe er Kunden, die ihm extra seltene Scheine besorgen. Dabei dürfen es nie so viele werden, dass sie das kleine Marienbild verdecken würden. Das fährt mit und schützt, seit es ihm eine Nonne aus der Bosse-Klinik schenkte.
Maria hält ihre Hand über Seligs kleines Einzelunternehmen. „Ich habe noch nie einen Unfall verursacht“, sagt er stolz. Verwickelt war er freilich schon in den einen oder anderen. Mit seiner jetzigen Limousine wünscht er sich das freilich nicht mehr, denn die „soll halten bis 2020“. Dann denkt auch Jürgen Selig daran, endgültig in den Ruhestand zu gehen und sich ganz und gar der Familie und den Enkelinnen zu widmen. Nur zu den beiden Mädchen, sechs und zehn Jahre alt, setzt er sich mit Vertrauen auf den Beifahrersitz. „Wir spielen das oft und dann bin ich der Fahrgast.“
Dass alle Lieben zum Weihnachtsfest zusammen kommen, ist in der Familie Selig eine Selbstverständlichkeit. Nur für gute Kundschaft wird er deshalb ein paar Fahrten machen und ansonsten ruhig und entspannt die Feiertage genießen. Die Hoch-Zeit für Taxifahrer steht schließlich noch an. „Natürlich ist Silvester einer der besten Tage im Jahr, aber auch das Stadtfest lohnt sich für uns“, sagt der Taxifahrer.
Deswegen schauen er und seine Kollegen auch mit Spannung auf das Reformationsjubiläum, ahnen aber schon, dass die meisten Gäste wohl mit Bussen unterwegs sein werden. „Wir lassen es auf uns zukommen, optimistisch bin ich immer“, sagt Jürgen Selig noch und dann wartet er wieder bei Kaffee aus der Thermoskanne und Zeitungslektüre. (mz)
