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Adventskalender Adventskalender: "Man muss dazu geboren sein"

Von Corinna Nitz 11.12.2014, 09:45
Obergerichtsvollzieherin Carola List: „Mit uns kann man reden“, sagt sie über sich und ihre Berufskollegen.
Obergerichtsvollzieherin Carola List: „Mit uns kann man reden“, sagt sie über sich und ihre Berufskollegen. Achim Kuhn Lizenz

Pratau - Um zur Bürotür von Carola List in Pratau zu gelangen, muss man durch die Sündergasse gehen. So nennt sie selbst jenen schmalen Weg, an dessen Eingang ein Schild mit Landeswappen auf ihre Profession hinweist: List ist Gerichtsvollzieherin.

Der Stuhl, auf dem in Lists Büro die Sünder Platz nehmen, ist weich und bequem und damit das ganze Gegenteil vom Alltagsgeschäft der schlanken Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur. Sie hat die unbequeme Aufgabe, im Auftrag der Vollstreckungsgläubiger Schulden einzutreiben, Wohnungen räumen zu lassen, Konten zu pfänden oder Gas- und Stromzähler wegzunehmen. Manchmal muss sie gänzlich renitente Schuldner, die etwa ihre Vermögensverhältnisse nicht offenlegen wollen, auch der Beugehaft zuführen. Dass sie dafür einen Haftbefehl braucht (wie für alles ein vollstreckbarer Titel notwendig ist), ist klar. Um die Leute ins Gefängnis zu befördern, kann sie die Polizei anfordern, sie hat das aber auch schon selbst gemacht. List ist eine toughe Frau.

Jedes Jahr im Advent werden Türchen geöffnet. Dahinter verbergen sich Schokolade, Spielzeug aber auch Parfüms und andere Dinge, die die Zeit bis Heiligabend versüßen sollen.

Die Mitteldeutsche Zeitung geht mit Ihnen, liebe Leser, auch wieder auf Entdeckungsreise von Tür zu Tür. Waren Sie es selbst, die uns im vergangenen Dezember die Türen zu Ihren Küchen öffneten und uns so manch „geheimes“ Familienrezept und dessen Geschichte offenbarten, wollen wir in diesem Jahr ganz ungewöhnliche Türen öffnen und nicht nur das, was sich dahinter verbirgt, ins Licht der Öffentlichkeit rücken, sondern auch all diejenigen, die uns die Türen öffnen und Einblicke in ihre nicht ganz so alltägliche Welt gewähren. (sw)

Am Montagmorgen dieser Woche ging es nicht um Beugehaft, sondern mal wieder um die Zwangsräumung einer Wohnung in einer Kleinstadt im Landkreis. Doch war der Mensch, der dort lebt und Mietschulden angehäuft hat, nicht da. Beim Versuch, die Tür zu öffnen, sei dem Spediteur gleich der Rahmen entgegengekommen. Was man in der Wohnung fand, es war wohl nicht der Rede wert, wird eingelagert. Einen Monat lang, so List. Der Mieter sei benachrichtigt.

Nackter Mann, leere Taschen

Haftbefehle sind freilich die Ultima Ratio. Und anders als früher, als Gerichtsvollzieher möglichst unverhofft zu den Schuldnern gehen sollten, stehe heute nach dem Versuch einer gütlichen Einigung die Vermögensauskunft an erster Stelle. Denn die lange praktizierte Art der Vollstreckung sei uneffektiv gewesen. List: „In den wenigsten Fällen gab es größere Sachen zu pfänden.“ Und: „Fass’ mal einem nackten Mann in die Tasche.“ Dass jemand in eine Lage kommt, in der nicht nur die Taschen leer sind, ist oftmals selbstverschuldet. Die einen, sagt List, zahlen Miete oder Rechnungen nicht, weil sie das Geld lieber zur Beschaffung etwa von Alkohol einsetzen. Andere sind im Kaufrausch. Letzteres sei besonders schlimm nach der Wiedervereinigung gewesen: „Die Leute haben gekauft, sich verschuldet - und dann ihre Arbeit verloren.“ Es gab Tage in den 1990er Jahren, an denen ist List zusammen mit einem Kollegen in ihrem Bezirk des Amtsgerichts Wittenberg mit 30 „Sachen“ in der Tasche ausgerückt. 30 Sachen - das waren auch 30 Vorgänge und im schlimmsten Fall ähnlich viele Schicksale. An den Wochenenden fuhr man zu Weiterbildungen. „Es war der blanke Wahnsinn“, erinnert sich List.

Raus aus dem Milieu

Nun kann einem Gerichtsvollzieher nicht nur das Pensum zusetzen. Es ist auch das Elend, das sich ihnen bisweilen offenbart. Als besonders belastend empfindet es List, wenn Kinder mit betroffen sind. „Manche schämen sich für ihre Eltern und wollen raus aus dem Milieu.“ List versucht dann schon mal, ihnen dabei zu helfen, den ungeordneten Verhältnissen zu entkommen. Auf der anderen Seite habe sie heute mitunter schon wieder die Kinder früherer Schuldner, die offenbar das weitermachen, was ihnen vorgelebt wurde.

Die „bedeutendste“ Gruppe unter jenen, die plötzlich zu Schuldnern werden, sei übrigens die Mittelschicht. Besonders Selbstständige, Handwerker etwa, können schnell in wirtschaftliche Not geraten, wenn Auftraggeber Rechnungen für erbrachte Leistungen nicht (oder erst mit erheblicher Verspätung) begleichen. Was List beschreibt, gleicht einer Teufelsspirale: Bleibt das Geld aus, können die Betroffenen ihrerseits kein neues Material kaufen oder Lieferanten nicht mehr bezahlen, dies gelte auch für Pflichtversicherungen. Solche Menschen sind Gläubiger und Schuldner zugleich. Von „lieben Schuldnern“ spricht List und davon, dass diese Leute oft kaum noch können und gleichzeitig von Scham geplagt werden, „obwohl sie das nicht müssten“.

Nicht jeder lebt eben über seine Verhältnisse, manchmal sind es die Umstände, die aus einem bis dahin unbescholtenen Zeitgenossen einen Fall für den Gerichtsvollzieher machen.

Über ihre Arbeit sagt List: „Man muss dazu geboren sein. Und man braucht Fingerspitzengefühl.“ Das sei unter Umständen hilfreicher, als bloß Druck auszuüben oder als „Winkeladvokat“ aufzutreten. Über die Beliebtheit von Gerichtsvollziehern gehen die Meinungen wie nicht anders zu erwarten auseinander. Wer eine entsprechende Suchanfrage zum Berufsstand im Netz startet, kann viel lesen über Drohungen, sogar Übergriffe.

Verbindung zum Schuldner

List hingegen betont: „Wir haben nicht den schlechtesten Stand. Weil man mit uns reden kann.“ Sie sind es doch, die eine „Verbindung zum Schuldner haben“, und das sei auch im Interesse des Gläubigers. (mz)