500 Jahre Reformation 500 Jahre Reformation : Im Zeichen der Schlange

Wittenberg - Um ein Haar wäre nicht mal der Nachfahre mehr hineingekommen. Nur einer glücklichen Fügung verdankt es Lutz Hering am Ende, dass er doch mitfeiern darf bei seinem Familienfest.
Hering, geboren 1961 in Karl-Marx-Stadt und Ladenbauer von Beruf, zählt den Mann, den Wittenberg und die Welt an diesem 31. Oktober so mächtig feiern, zu seinen direkten Ahnen. Eine Eintrittsgarantie in die Exerzierhalle ist das nicht. Nicht an diesem Tag.
Das Gebäude am Neuen Rathaus ist schon kurz nach Einlassbeginn dicht. Kein Wunder, bietet es doch das offizielle Programm, Festgottesdienst und Festakt mit nahe sämtlichen bundesdeutschen „Verfassungsorganen“, in zwangloser Runde, per Live-Übertragung.
Die Riesenapfeltorte aus 500 Stückchen und ebenso viele Kerzen zum Geburtstag gibt es noch obendrauf, dazu mitreißende Rhythmen von einem Gospelchor, der sich eigens zu diesem Anlass zusammengefunden hat.
Erfreut über die größere Zahl englischsprachiger Angebote zeigte sich der Wittenberg-Direktor des Lutherischen Weltbundes (LWB) Hans W. Kasch. Neben dem Morgengottesdienst gab es Vorträge und am Nachmittag bot die Touristen-Info erstmals öffentliche Stadtführungen auf Englisch an; aufgrund der starken Nachfrage habe man sogar eine zweite derartige Führung auf die Beine gestellt, so Tourismuschefin Kristin Ruske. Dass am Dienstag alle Welt in Wittenberg war, war auf den Straßen nicht zu überhören. Die Zugkraft, die die Stadt als Ort des Thesenanschlags für viele „auf emotionaler Ebene“ hat, überrasche ihn immer wieder, so Kasch. Der LWB startet gerade wieder ein Seminar, viele kamen wegen des Festes eigens früher.
Gastgeber der Sause zum 500. der Reformation in der Exerzierhalle sind die Staatliche Geschäftsstelle 2017 und die Evangelische Kirche in Gestalt ihrer Wittenberg-Stiftung. „Wir sind selbst überwältigt vom Andrang“, wird Geschäftsstellen-Sprecher Markus Galle sagen, als die Tortenstückchen auf den Tellern verteilt sind.
Im Publikum mischen sich Touristen und Einheimische, erstaunlicherweise sind erstere (auch?) hier in der Überzahl. Und viele haben weite Wege auf sich genommen, um dabeizusein an diesem Tag in Wittenberg.
Zu der „Gemeinde in der Außenübertragung“, wie Landesbischöfin Ilse Junkermann in der Schlosskirche die übergroße Mehrheit nennt, die ebendort nicht mit dabei ist, zählen etwa die Münchnerin Doris Knuff und Claudia Rettschlag aus Kerpen (der andere Grüne Bahnhof, genau!). „Wittenberg hat das super gemacht“, lobt Knuff, die mit einer Freundin auf „Kulturreise“ durch den Osten ist, „die Leute geben sich richtig viel Mühe.“
Auch für Rettschlag, unterwegs mit Mann und Eltern, stand es außer Frage, nach Wittenberg zu kommen. „Die Unterkunft haben wir schon vor drei Jahren reserviert“, berichtet sie. Dass die Nordrhein-Westfalen bisher weder Stadt- noch Schlosskirche besichtigen konnten, wirft sie nicht um - der Mittwoch, Allerheiligen, ist für sie schließlich auch noch frei.
Andere Gäste freilich zeigen sich reichlich genervt, dass sie nicht eingelassen wurden. Er sei jetzt 500 Kilometer gefahren, schimpft ein junger Mann aus Unna - um dann nirgendwo hineinzukommen?
Vor den beiden Hauptkirchen hatten sich am Morgen in der Tat beeindruckende Warteschlangen gebildet. Bis auf den Marktplatz standen Besucher für die Stadtkirche an. Doch lange vor Beginn des Gottesdienstes war klar: Nichts geht mehr. Dass es noch einen dritten Gottesdienst gab, mit Friedrich Schorlemmer im Hof der Leucorea, versöhnte allerdings so manchen.
Während es am späten Mittag vor der Schlosskirche dann noch einmal so voll wurde, dass nicht jeder beim Promi-Gucken auf seine Kosten kam, so hatte die Stadtkirche den gesamten Vormittag des Reformationstages dazu auserkoren, den Abschluss der Generalsanierung des Gotteshauses zu feiern.
Auf dem auch sonst oft zugigen, jetzt aber zusätzlich feuchtkalten Kirchplatz schritt man kurz nach dem Mittagsläuten zur Enthüllung der neuen Glasfenster des Südportals mit Ministerpräsident und Oberbürgermeister. Und mancher Besucher, der sich noch kurz zuvor über das unvermeidliche Mittelaltermarkttreiben zum Reformationstag mokiert hatte, freute sich jetzt doch über die vielen damit zwangsläufig verbundenen wärmenden Feuerchen...
Schlangestehen war, kaum überraschend, auch angesagt am Panorama; vor dem Lutherhaus gingen an einem eigens aufgebauten Info-Stand der Bundesregierung Beutel und Deutschlandkarten weg wie warme Semmeln. Dass das Lutherhaus wie - in etwas geringerem Maße auch das Melanchthonhaus - an so einem Tage eine enorme Magnetwirkung entfaltet, versteht sich.
Im Foyer neben den Kassen konnte man sich kreativ an Thesen versuchen, etwa mit Linolschnitt - nicht nur Kinder fanden das überaus interessant.
Zahllose Gruppen, Grüppchen, Einzelpersonen nutzten unterdessen an diesem Ausnahme-Dienstag den Einfall Zehntausender in die Lutherstadt (bereits am Montag waren laut Mitorganisator Johannes Winkelmann geschätzt 20.000 Menschen in die Stadt gekommen, jetzt zum 500. Geburtstag natürlich noch einmal deutlich mehr), um ihre eigenen Anliegen unters Volk zu bringen.
Das Spektrum reichte hier von den Gegnern der „Judensau“ über christliche Minderheiten bis hin zu iranischen Oppositionellen, die Unterschriften sammelten gegen das Mullah-Regime.
Das Gros freilich kam genau wegen des Ereignisses. „Geschichte pur“ empfand Luther-Nachfahr Hering, in seinem Fall sogar: Familiengeschichte. (mz)

