Zucker, Rosinen, Orangeat Zucker, Rosinen, Orangeat: Stollen-Zeit in der Reichardtswerbener Traditionsbäckerei

Reichardtswerben - Die Wochen sind derzeit lang für die Bäckermeisterin Karola Henning-Hippe, und früh aufstehen ist auch am Montag angesagt. Dann werden in der Reichardtswerbener Bäckerei weder Brot noch Brötchen und Kuchen hergestellt und es ist hohe Zeit für den Renner der Weihnachtszeit: Stollen. Morgens um vier geht es los, wird der Teig mit Milch, Hefe und Mehl angesetzt. Zwei Stunden hat er Zeit, bevor er in der Knetmaschine weiterverarbeitet wird.
Traditionsbäckerei in Reichardtswerben mit Stollenrezept aus Thüringen
Die Bäckerei hat nachweislich eine 118-jährige Tradition an diesem Standort, ist doch das Haus 1901 gebaut worden. Es gibt zwar noch eine ältere Rechnung über den Ankauf von Holz 1857, doch ob das mit einer Vorgänger-Bäckerei zu tun hat? Die 47-Jährige hebt die Schultern. Klar ist aber, dass in der Vergangenheit nicht immer eigener Christstollen gebacken worden ist.
Den Teig haben die Dorfbewohner früher selbst geliefert und er ist in der Bäckerei nur noch in den Backofen geschoben worden. Das Rezept zum Selbstbacken hat dann Mutter Bärbel Hippe aus Erfurt mit in die Familie gebracht, als sie Rolf Hippe (beide 79) geheiratet hat. Und hier wurde es verfeinert. Sprich: Der Teig wurde so ausgerollt und umgeschlagen, als würde man das Christkind in der Krippe in ein Tuch betten.
Rosinen, Orangeat und Rum: Das Geheimnis des Stollens in Reichardtswerben
Nach zwei Stunden ist der schwere Hefeteig so weit, dass weitere Zutaten zugeführt werden können: Salz, Zucker, Rosinen, Orangeat und Rum sollen für den typischen Geschmack und für die richtige Feuchtigkeit sorgen. Doch zur DDR-Vergangenheit gibt es einen wesentlichen Unterschied, wie Bärbel Hippe weiß: Denn damals wurde das Zitronat aus grünen Tomaten hergestellt.
Die Knetmaschine wird in Gang gesetzt und weitere zwei Stunden vergehen, bis der Stollen seine richtige Form erhalten kann. Das ist Aufgabe von Thomas Ulrich (34), der in der kleinen Firma gelernt hat und ihr bis heute treu geblieben ist. Das Trio in der Backstube komplettiert Rebekka Henning, die an diesem Tag für die Plätzchen zuständig ist und Zimtmürbchen auf das Blech legt.
Stollenproduktion bereits seit Oktober angelaufen
Ansonsten ist Verkaufspersonal ein Problem, fehlen doch derzeit wegen Krankheit zwei Frauen. Die Bäckermeisterin sagt: „Nicht mal ein Aushang am Schaufenster hat geholfen.“
Die Stollenproduktion ist für Liebhaber bereits Anfang Oktober angelaufen. Doch erst ab dem Totensonntag und dem jetzt folgenden ersten Advent boomt die Herstellung so richtig. Stollen gehört eben zur Weihnachtszeit dazu, weiß Karola Henning-Hippe. Hat man zuvor in der Woche um die 50 gebacken, wird der Ausstoß nun verdreifacht.
Bäckerei in Reichardtswerben bekommt Bestellungen aus München
Die Stollen kommen auf kleine Bleche, werden mit einem Wagen zum Ofen gerollt und in ihm mit einem langen Schieber platziert. Gebacken wird mit einer Anfangstemperatur von 225 Grad Celsius, die sich innerhalb einer Stunde reduziert, damit die Stollen nicht zu dunkel werden. Nach dem Abkühlen werden sie gebuttert, mit Puderzucker bestäubt und verpackt. Und manche gehen sogar auf den Postweg. So haben Liebhaber des weihnachtlichen Kuchens Bestellungen auch in Hildesheim und München aufgegeben.
Allerdings muss der Stollen erst einige Zeit liegen, damit er beim Transport keinen Schaden nimmt. Aber auch darüber hinaus kommen Kunden nicht nur aus dem Ort. Daneben wird an einem Tag immer noch selbst kreierter Stollen von Reichardtswerbenern gebacken. Sie kommen wie vor Jahrzehnten mit ihrem Teig, der mit Rouladennadeln oder selbst geschnitzten Markierungen gekennzeichnet wird, damit jeder auch den richtigen zurückerhält.
Bäckerei in Reichardtswerben wird als Familientradition geführt
Gut ein Dutzend Frauen legt da noch Hand an. „Aber leider werden es immer weniger.“ Und wie lange kann dieses einzigartiges Backwerk verzehrt werden? „Theoretisch noch nach einem Jahr,“ sagt Karola Henning-Hippe. Vorausgesetzt, der Stollen wird kühl gelagert. Manche essen den letzten Stollen zu Ostern. Die meisten bewahren ihn deshalb in der Schlafstube auf, weil dort kaum geheizt wird.
„Bis Weihnachten haben wir noch viel Arbeit“, sagt die Bäckerin, die mal Schriftsetzerin werden wollte. Sie betont aber, dass sie sich letztlich gern für die Weiterführung der Familientradition entschieden hätte. Dennoch sehnt auch sie sich angesichts des gegenwärtigen Arbeitspensums ein wenig nach den Tagen zwischen Heiligabend und dem Dreikönigstag. (mz)