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Weißenfels Weißenfels: Zeitzeuge erinnert sich an 17. Juni 1953

Von bärbel schmuck 15.06.2013, 19:50

weissenfels/MZ - Ein riesiger Menschenauflauf an der Marienapotheke und der Kreuzung dahinter in der Weißenfelser Innenstadt, jede Menge Polizei und dann schwer bewaffnete junge russische Soldaten. Er hat diese Bilder noch vor Augen, „so, als wäre es erst gestern geschehen“, sagt Gerhard Bach.

Der Weißenfelser, jahrelang verantwortlich für den Weißenfelser Heimatboten, für den er heute noch gern schreibt und fotografiert, erinnert sich an den 17. Juni 1953 in seiner Stadt. Als 14-Jähriger erlebte er den Volksaufstand - heute vor 60 Jahren. Zu den Hauptschauplätzen gehörten das Gericht, das Gefängnis und die Oberschule, berichtet der gelernte Schlosser und spätere Betriebszeitungsfotograf der „Kette“ (VEB, volkseigener Betrieb Ketten- und Nagelwerke).

In der Beuditzschule hatte der heute 73-jährige Rentner damals gerade Deutschunterricht, als die Lehrerin entschied, neue Hefte und anderes Schreibmaterial bei Lehmstedts in der Großen Burgstraße holen zu lassen. Zwei Schüler durften in die Stadt gehen und kehrten aber kurz danach völlig atemlos in den Klassenraum zurück mit der Nachricht: Arbeiter aus den Schuhfabriken und aus der Tewa („Kette“, heute: Drakena GmbH) streiken. „Wir bekamen schulfrei und sollten schnell nach Hause gehen, das wollten unsere Lehrerin und der Direktor so“, blickt Gerhard Bach zurück. Für ihn aber begann das „Abenteuer“, der Junge flitzte mit anderen Klassenkameraden die Beuditzstraße lang zum Zentrum.

An der Kreuzung vor dem Gericht hörte der Schüler Menschen in Sprechchören rufen: „Der Spitzbart muss weg“ - womit Walter Ulbricht gemeint war, „wir fordern freie Wahlen und die Einheit Deutschlands!“ An der Polizeiwache am Klostergebäude versammelten sich wütende Leute, sie kippten einen offenen Wagen mit Polizisten um, die gerade, mit Gummiknüppeln bewaffnet, aussteigen wollten. Die Stimmung war aufgeheizt und in dem Beuditzschüler stieg die Angst hoch. Die Polizisten retteten sich in den Haupteingang der Wache. Demonstranten zerstachen mit Taschenmessern die obenliegenden Reifen des Autos und warfen Gegenstände gegen das heutige alte Kloster.

Weiter ging es für Bach zum Marktplatz, wo es nach einer furchtbaren Randale aussah. Männer bauten von der Rathaus-Fassade große Porträt-Bilder von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl ab und warfen sie auf den Markt, dass es nur so krachte. Von drinnen schmissen Personen Akten und Schreibmaschinen aus den Rathausfenstern. Auf einmal marschierten kräftige Arbeiter mit großen Brecheisen und wuchtigen Vorschlaghämmern zum Gericht auf, sie kamen aus der Schiffskettenschmiede der Tewa in der Neustadt, wollten das Gefängnis stürmen und die Häftlinge freilassen. Gerhard Bach beobachtete das dramatische Geschehen von einer Mauer der gegenüberliegenden Goetheoberschule aus. Als Polizisten mit Schusswaffen auftauchten, warfen aufgebrachte Menschen mit Steinen, Glasscherben flogen und das Schnitzwerk am Polizei-Haupteingang wurde beschädigt. „Mir wurde ganz schön mulmig bei dem Anblick“, gesteht Bach.

Als sowjetische Soldaten mit schweren Motorrädern mit Seitenwagen vom Typ „Molotow“ anrückten, auf denen Maschinengewehre angebracht waren, wurde dem Jungen noch flauer in der Magengrube. Die Soldaten bewegten sich im Bereich Gefängnis und Polizeikreisamt mit ihren Gefährten gefährlich auf das Gewimmel zu, Menschenmassen wichen von Fahrbahn und Bürgersteig in Nebenstraßen aus - der Tumult löste sich auf. Uniformierte besetzten bis zum nächsten Morgen noch Eingänge, nachdem die motorisierten Sowjets in Richtung Lützen von dannen rollten.

Am nächsten Morgen begann die Schule wieder, Tage danach fehlten Lehrer und Schüler. Sie hatten sich gen Westen aufgemacht. Ein Klassenfreund schrieb später eine Karte aus Kiel.