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Toter Säugling Toter Säugling aus Weißenfels wurde im April 2017 gefunden: Der kleine Junge der nicht leben durfte

Von Alexander Schierholz 21.03.2019, 11:00
Bewacht von Kuscheltieren und Engeln: das Grab des namenlosen Säuglings auf dem Weißenfelser Friedhof
Bewacht von Kuscheltieren und Engeln: das Grab des namenlosen Säuglings auf dem Weißenfelser Friedhof Andreas Stedtler

Weißenfels - Auf Bildern wirkt der Grabstein viel größer als er in Wirklichkeit ist. Ein schlichter brauner Findling, vielleicht 50 Zentimeter breit, 40 Zentimeter hoch. Wo üblicherweise Name, Geburts- und Sterbedatum des Verstorbenen stehen, ist eine Inschrift eingraviert: „Menschenkind - tot aufgefunden am 24.4.2017 in Weißenfels“.

Toter Säugling aus Weißenfels: Tat wühlt Stadt bis heute auf

Der Junge, der hier begraben ist, in der Kinderabteilung des Weißenfelser Friedhofs „Am Sausenhölzchen“, hat offiziell keinen Namen, er taucht nirgendwo auf, in keinem amtlichen Verzeichnis. Der Junge wurde nur wenige Tage alt. Am 24. April 2017 entdeckte eine Frau seinen Leichnam bei Arbeiten in einem Garten. Er war dort abgelegt worden. Der kleine tote Körper wies Spuren „massiver Gewalteinwirkung“ auf, erklärte damals die Polizei. Das Kind starb demnach durch einen Schlag gegen den Kopf.

Ein Säugling wird getötet. Ein unfassbares Verbrechen, das die 40.000 Einwohner zählende Stadt im Burgenlandkreis bis heute aufwühlt. Auch, weil die Ermittlungen nach zwei Jahren auf der Stelle treten. Es gibt keine heiße Spur, keinen entscheidenden Hinweis. Weder auf die Mutter, die aus Sicht der Ermittler mutmaßlich ihren Sohn getötet hat. Noch auf mögliche weitere Beteiligte.

Toter Säugling aus Weißenfels: Derzeit läuft ein Massen-Gentest

Derzeit läuft ein Massen-Gentest, um der Mutter auf die Spur zu kommen. Bisher ohne Erfolg. Mehr als 2.200 Frauen aus Weißenfels und dem Ortsteil Borau, die zwischen 1985 und 2000 geboren sind, waren aufgefordert worden, eine Speichelprobe abzugeben. 1 200 Proben sind bisher ausgewertet worden, ohne Treffer. 400 Frauen haben sich noch gar nicht zurückgemeldet. 14 weitere haben den Test verweigert, was ihr gutes Recht ist. Manche sind umgezogen, die Briefe kamen zurück.

Toter Säugling aus Weißenfels: Der Radius wird ausgedehnt

Der Test ist bereits der zweite dieser Art. Eine erste Untersuchung, mit 250 Frauen aus der näheren Umgebung des Fundortes der Babyleiche, war erfolglos verlaufen. Dann hatten die Ermittler den Radius ausgedehnt auf die ganze Stadt. „Damit geraten jetzt auch Beschäftigte aus dem Schlachthof oder der Bundeswehr in den Fokus“, sagt Hans-Jürgen Neufang, Oberstaatsanwalt in Naumburg. Das macht die Untersuchungen nicht einfacher. Bei der Bundeswehr etwa herrsche eine hohe Fluktuation, sagt Neufang. Manche Soldaten seien nur vorübergehend in Weißenfels, beispielsweise für einen Lehrgang. Andere seien vorübergehend nicht da, weil sie etwa an einem Auslandseinsatz teilnehmen.

Der Garten, in dem der kleine tote Körper im April 2017 gefunden worden war, liegt an einem Fußweg zwischen zwei Ausfallstraßen am östlichen Stadtrand von Weißenfels. Wohnhäuser, Gewerbe, medizinische Einrichtungen, tosender Verkehr - eher keine Gegend, in die es Ortsfremde verschlägt. Davon gehen jedenfalls die Ermittler aus. Ihr Ansatz: Die Mutter, die mutmaßliche Täterin, muss aus der Stadt kommen, sie muss sich auskennen.

Toter Säugling aus Weißenfels: Eigene Ermittlungsgruppe gebildet

Um den Fall kümmert sich eine eigene Ermittlungsgruppe, ihr Name: „Säugling“. Anfangs waren sie zu sechst, zwischenzeitlich mehr als 20, jetzt sind es noch vier Kriminalisten. Rund um den Garten haben sie praktisch jeden Stein umgedreht. Sie haben rund 3 000 Menschen befragt, immer in der Hoffnung: Jemand muss doch etwas mitbekommen haben. Hat jemand etwas beobachtet, das weiterhelfen könnte? Kennt jemand eine Frau, die schwanger war, aber nun kein Kind hat? Das waren die Fragen, mit denen die Beamten buchstäblich Klinken putzen gingen in Praxen, Büros, Wohnungen. Vergeblich. Sie gingen über 20 Hinweisen aus der Bevölkerung nach. Vergeblich. Über den Fall wurde zweimal in der Fernsehsendung „Kripo live“ des Mitteldeutschen Rundfunks berichtet. Vergeblich. Einmal, nach einer weiteren Fernseh-Sendung, geriet eine junge Frau in Verdacht. Auch diese Spur erwies sich als falsch.

Und jetzt? „Wenn der Täter oder die Täterin nie gefunden wird, dann muss man damit leben“, sagt Martin Schmelzer. Es klingt resigniert, aber es ist bloß eine nüchterne Feststellung. Schmelzer ist evangelischer Pfarrer in Weißenfels, er hat den Jungen damals beerdigt.

Toter Säugling aus Weißenfels: Junge wurde am 29. Juni 2017 beigesetzt

„Ich bin auf die Stadt zugegangen“, erinnert er sich, „und habe angeboten, die Bestattung zu übernehmen.“ Er habe diesem kleinen Menschen damit seine Würde zurückgeben wollen, sagt er. Die Stadtverwaltung sei sofort einverstanden gewesen, „die sind sehr sensibel damit umgegangen“. Die Stadt stellte die Grabstelle und den Grabstein.

Am 29. Juni 2017, einem Donnerstag, wurde der Junge beigesetzt. Es war ein trostloser Tag: „Es hat den ganzen Tag geregnet, daran erinnere ich mich noch“, sagt Schmelzer. Neben ihm am Grab standen der Oberbürgermeister, Polizisten, die Vikarin der Kirchgemeinde. „Wir wollten das bewusst im kleinen Kreis halten.“

Bestattungen gehören quasi zum Alltagsgeschäft eines Pfarrers. Aber das hier war kein alltäglicher Todesfall. „Das war ein Mensch, der gar nicht erst leben durfte“, sagt Schmelzer. „Das ist schmerzhaft.“ Der Junge und sein grausamer Tod lassen ihn bis heute nicht los: „Manchmal kommt es vor, dass mir das Kind nah ist. Dann fühle ich mit ihm.“

Letzte Ruhestätte des kleinen Jungen: Kuscheltiere, vom Wind zerzaust

Die letzte Ruhestätte des kleinen namenlosen Jungen auf dem großen Weißenfelser Friedhof ist nicht schwer zu finden. Den Hauptweg hoch bis zu einem Gräberrondell, dann rechts an den Urnen vorbei. Abteilung IX, das erste in einer Reihe von 13 schmalen Kindergräbern.

Die städtischen Friedhofsgärtner kümmern sich um das Grab, gerade erst haben sie die Frühjahrsbepflanzung vorgenommen. Vor dem Grabstein Zeichen des Mitgefühls, niedergelegt von Unbekannten: Kuscheltiere, das Plüschfell von Wind und Regen zerzaust und feucht. Ein Spielzeugquad. Ein buntes Windrädchen. Engelsfiguren.

Wer ist verantwortlich für diesen Tod? Vielleicht wird der Druck auf die Mutter, die die Polizei für die mutmaßliche Täterin hält, irgendwann zu groß. Auch das ist eine stille Hoffnung der Ermittler. Schon 2017 hatte der Leiter der Ermittlungsgruppe, Heiko Mosebach, an die Frau appelliert, sich den Behörden zu stellen: „Sie muss daran denken, dass sie das mit sich herumschleppt, eventuell auch in eine neue Beziehung, was zu vielen psychischen Belastungen führen kann.“ Martin Schmelzer, der Pfarrer, sagt es so: „Wer so etwas tut, ist selbst ein Opfer.“ (mz)