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Rollenspiel "Youth on the Run" Rollenspiel "Youth on the Run": Freiwillige auf der Flucht

Von Cornelia Winkler 18.03.2015, 14:44
Familie Ghalib startet die Flucht durch den Wald in der Dübener Heide.
Familie Ghalib startet die Flucht durch den Wald in der Dübener Heide. Cornelia Winkler Lizenz

Weissenfels/Bad Schmiedeberg - Geordnet in einer Reihe knien sie im Matsch. Die Köpfe zum Boden geneigt. „Wer seid ihr? Wo wollt ihr hin? Warum wollt ihr unser wunderschönes Land verlassen?“, herrscht ein Soldat sie immer wieder an. Wenn einer der 28 somalischen Flüchtlinge nicht schnell genug antwortet, heißt es Liegestütze machen oder eine Runde um den Platz laufen. Willenlos folgen sie den strikten Anweisungen der vermummten Soldaten.

Fluchtweg durch die Dübener Heide

Die Flüchtlinge und Armeesoldaten sind Teil des Rollenspiels „Youth on the Run“, das vom DRK-Landesverband Sachsen-Anhalt in einem Ferienlager bei Bad Schmiedeberg veranstaltet wird. Für 28 junge Menschen, die sich derzeit im Freiwilligendienst in Weißenfels und Halle befinden, heißt es für 24 Stunden, in das Leben eines Flüchtlings zu schlüpfen. In verschiedenen Szenen müssen die Teilnehmer etliche Hürden meistern, um den Fluchtweg von Somalia bis nach Deutschland, in diesem Fall durch die Dübener Heide, zu bestreiten. Was ihnen genau bevorsteht, weiß zuvor keiner. „Uns wurde nur gesagt, dass wir Flüchtlinge spielen“, erklärt Julia. Die 20-Jährige, die normalerweise im Integrativen Kindergarten in Weißenfels ihr Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, wirkt angespannt und nervös.

Während des Rollenspiels gibt es nur drei klare Regeln: Waffen jeglicher Art - auch Attrappen - sind verboten, es gibt zu keiner Zeit Körperkontakt und jeder kann das Spiel zu jeder Zeit abbrechen. Gesprochen wird im Spiel zudem nur Englisch, was den Schwierigkeitsgrad für viele erhöht.

Bevor es losgeht, bekommen die Teilnehmer neue Identitäten und Familien zugewiesen, mit denen sie sich auf den Weg begeben. Meine Familie, mit der ich die kommenden 24 Stunden auf der Flucht bin, heißt Ghalib. Ihr Clan sind die Dir. Zwanzig Minuten habe ich zu Beginn Zeit, meine neue Familie, bestehend aus Julia, Eric, Svenja, Kim, Enrico, Sebastian, Patrick und unserem Familienoberhaupt Annalena - alias Abdi Ghalib (60) -, kennenzulernen. Zwanzig Minuten zum Einprägen unserer neuen Namen sowie aller wichtigen Eckdaten zu Familie und den Gründen, warum wir das Land verlassen wollen. Dann geht es abrupt los.

Bestraft und gedemütigt

Das Lager wird von der Armee gestürmt. Wir werden nach draußen auf den Sportplatz des Ferienlagers verjagt. Hier heißt es, den somalischen Soldaten Rede und Antwort zu stehen und ihren strikten Anweisungen zu folgen. Wer das nicht tut, wird bestraft. Oft auch zur Belustigung der Soldaten gedemütigt. Spätestens jetzt wird allen klar, dass die kommenden 24 Stunden kein Spaß werden.

Nicht jeder hält bis zum Ende durch. Schon beim Papierkrieg, als die Teilnehmer die nötigen Ausreisepapiere besorgen müssen, brechen die Ersten ab. Rund zwei Stunden schieben sich die vier Flüchtlingsfamilien durch den engen Flur des Ferienlagers, das sich kurzerhand in eine Art Auswärtiges Amt verwandelt hat. 13 verschiedene Formulare sind nötig. Welche genau? Das weiß keiner.

Es ist zum Verzweifeln. Ob man Papiere bekommt, ist reine Willkür. Immer wieder müssen wir im stickigen Flur vor den Büros warten. Putzfrauen drängen sich durch den schmalen Gang an uns vorbei. Im Hintergrund läuft unentwegt laute somalische Musik. Die ersten Nerven liegen blank. Als wir uns zum gefühlt zwanzigsten Mal in einem der Büros auf dem Boden niederlassen, ruft Annalena plötzlich „Emergency break“ (dt. Notbremse). Es ist das Codewort zum Ausstieg. Die 17-Jährige gibt auf.

Wie es für Familie Ghalib ohne ihr Familienoberhaupt weitergeht, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Druck zu groß

Damit hat Familie Ghalib ihr Familienoberhaupt verloren. Nach dem Spiel verrät Annalena, ihr Körper habe dem Druck nicht standgehalten. Ständig wurde sie als Familienvater verhört, alles auf Englisch. Das war zu viel für sie. „Mir war einfach nur noch schlecht“, so das Mädchen. Nicht lange nach ihrem Ausstieg findet die Büroszene ein jähes Ende. Der Krieg bricht über die Teilnehmer herein. Schüsse sind über Lautsprecher zu hören. Wir müssen das Gebäude verlassen. Draußen wird Familie Ghalib von zwei „Schleusern“ erwartet. „Schnell, folgt uns! Und seid leise!“, ruft Andrew. Der Engländer, der eigentlich als Freiwilliger in einem halleschen Hort tätig ist, ist einer von den 25 sogenannten Teamern, die während des Flüchtlingsspiels die Soldaten, Schleuser, Polizisten und andere mimen. Im Gänsemarsch folgen wir ihnen in den Wald. Das Familienoberhaupt - nach Annalenas Ausstieg muss ich als ältester Sohn dieses Amt übernehmen - voran, die anderen Mitglieder hinterher. Gegen Geld wollen uns die Schleuser zur jemenitischen Grenze bringen.

Das Problem: Wir haben nichts. Beim Zoll wurde uns alles abgenommen. Keine Uhr, kein Schmuck, keine Handys. Bis auf Schlafsack und warme Sachen ist alles weg. Ohne Geld, Essen und Trinken wollen wir bis nach Deutschland. Dass wir das schaffen, glauben weder Schleuser noch Grenzsoldaten. Entweder lachen sie uns aus oder bestrafen uns wegen der angeblichen Lügen. Immer wieder müssen wir auf dem matschigen Waldboden Liegestütze machen, Tiergeräusche imitieren oder zur Belustigung der Offiziere singen.

Aufwärmen im Flüchtlingscamp

Nur ab und an gibt es kleine Lichtblicke. Zum Beispiel das Flüchtlingslager „No Hope“ (Keine Hoffnung). Neben Decken und Tee zum Aufwärmen gibt es endlich auch etwas zu essen. Der Reis, zubereitet mit Kaffeesatz und Senf, schmeckt zwar nicht, aber er sättigt. Erschöpft sitzen die Familien in dem kalten, kahlen Raum.

Auch wenn die Flucht nur Simulation ist, die Erschöpfung nach den ersten zwölf Kilometern Fußmarsch ist echt. An lang Ausruhen ist jedoch nicht zu denken. Viermal werden wir aus dem Schlaf gerissen, bevor wir auch hier das Lager räumen und in die Nacht aufbrechen müssen. Immer wieder müssen wir uns in Gräben am Wegesrand verstecken, damit wir nicht von den Soldaten entdeckt werden. Wie lange wir noch durchhalten müssen, weiß keiner. „Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren“, sagt Julia während des Marsches durch den dunklen Wald. Sie ist geschafft. „Irgendwann muss es doch mal wieder hell werden und das Ganze zu Ende sein.“ Nur dieser Gedanke lässt die junge Frau durchhalten.

Hell wird es allerdings erst einige Stunden und Grenzübergänge später, als wir in Deutschland in Haft sitzen. Ohne jegliche Papiere wurden wir aufgegriffen. Durchgefroren, hungrig und hilflos sitzt Familie Ghalib in der Zelle und hofft auf die erlösende Nachricht: Asylantrag genehmigt. Doch die Realität sieht anders aus. Abgeschoben werden wir wieder in den Wald geschickt. Kurz darauf ist das Spiel zur Erleichterung aller Teilnehmer zu Ende. (mz)

Gehorsam wird den strikten Anweisungen der Soldaten gefolgt.
Gehorsam wird den strikten Anweisungen der Soldaten gefolgt.
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Wie die Ölsardinen liegen die Teilnehmer im Flüchtlingslager „No Hope“.
Wie die Ölsardinen liegen die Teilnehmer im Flüchtlingslager „No Hope“.
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