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Stadtführung durch Stolberg Stadtführung durch Stolberg: Warum die Balken schief sind

Von Susann Salzmann 31.05.2016, 10:00
Reinhold Siebold erklärt Ursula Schneider, Lars Puschmann und Barbara Dunken (v. re.) Besonderheiten bei den Stolberger Fachwerkbauten.
Reinhold Siebold erklärt Ursula Schneider, Lars Puschmann und Barbara Dunken (v. re.) Besonderheiten bei den Stolberger Fachwerkbauten. Salzmann

Stolberg - In Stolberg zum Deutschen Fachwerktag wurde am Sonntag gezeigt: Manchmal sind große Menschen im Nachteil. Vor allem, wenn sie eines der hübschen Fachwerkhäuschen in Stolberg betreten wollen. Nur mit gekrümmtem Rücken hätte Lars Puschmann in eines der rund 400 Fachwerkhäuschen in Stolberg eintreten können. Mit 1,88 Metern Körpergröße ist der aus Hannover stammende Mann gute acht Zentimeter größer als die Deckenhöhe in dem Haus, das dafür als Beispiel diente.

Nichts für große Menschen

Das, was für die Stadtführungsteilnehmer nicht auf den ersten Blick erkennbar war, illustrierte der Stadtschreiber Reinhold Siebold im historischen Kostüm mit charmantem Lächeln. Der Fußboden beginne nicht etwa am Ende des von außen sichtbaren Sockels, sondern mit dem dicksten Holzbalken, der darüber liegt. Der 89-jährige und etwa 1,65 Meter große Stadtschreiber stellte sich demonstrativ an die Hauswand. „Höher als 1,80 Meter – höher waren die Decken damals nicht“, erklärte er eine Besonderheit der Fachwerkhäuser im Harzort.

Warum der Bürgermeister Stolbergs Wegegeld beantragen könnte? Stadtschreiber Reinhold Siebold erklärt das mit dem dreistöckigen Rathaus, das auch als „Haus ohne Treppen“ bekannt ist. Der Zugang zu jeder Etage sei lediglich über die ans Haus angrenzende Kirchtreppe möglich. Das heißt: Will der Bürgermeister von seinem Büro in den Sitzungssaal gelangen, läuft er dafür zweimal entlang der sich streckenden Gänge. Beantragt habe er Wegegeld noch nicht, zwinkerte Siebold nach seiner Erklärung.

Puschmanns 1,80 Meter große Lebensgefährtin Ursula Schneider konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, stellte zugleich aber fest, dass das Städtchen mit seinem Fachwerk sehr herausgeputzt erscheint. Stolberg sei nicht die erste Fachwerkstadt, in der sie gemeinsam Urlaub machen.

Baum wurde nur mit Axt bearbeitet

Doch auch hier stieß das Paar auf etwas, das gedanklich zu allerlei Spekulationen anregt: Warum hat ein Fachwerkhaus ganz offensichtlich durchhängendes Gebälk? Nein, entkräftete Siebold mögliche Gedankengänge an ein Durchbiegen, Verschieben oder Unterspülen des Hauses. Damals sei einfach so gebaut worden. Damals, das heißt, zu einer Zeit, in der die Handwerker noch keine Maschinen benutzten, sondern den Baum mit der Axt bearbeitet haben. Noch dazu seien die krummen Hölzer viel günstiger gewesen. Vor allem, wenn zusätzlich statt teurerer Eiche günstigere Fichte verarbeitet wurde. Gerade recht also für die Tagelöhner, die vor Jahrhunderten die Häuser in der Hintergasse laut Siebold bewohnt haben. „Den Hintergrund kannte ich bisher nicht; damit hätte ich aber auch nicht gerechnet“, sagte Puschmann erstaunt.

Wert des Fachwerkhauses

Der Großteil der Häuser sei im Durchschnitt 300 bis 350 Jahre alt, informierte der kundige Stadtschreiber weiter. „18 Häuser wurden um 1520 und 1530 gebaut“, erzählte Siebold. Eines der ältesten ist das Museum „Alte Münze“. 1535 ist in dunkelroten Ziffern in den Türbalken eingeschnitzt. „Schauen Sie nur: Jede der vier Etagen bis unter das Dach ist mit Fächerrosetten verziert“, verwies Siebold auf ein typisches Merkmal des niedersächsischen Renaissance-Stils. Das Schmucksymbol, das an eine halbe Sonne erinnert und in Fachkreisen Palmette heißt, führte zur einzigen Frage, die Siebold nicht recht beantworten konnte: dem Wert des Fachwerkhauses. „Einige Silbermünzen mussten sie da schon bezahlen“, erwiderte Siebold vor dem Hintergrund, dass eine Silbermünze je nach Alter mit bis zu 1 300 Euro gehandelt würde.

Schutzzeichen gegen Gefahren des Alltags

Erprobt im Besichtigen von Fachwerkstädten zeigte sich auch das Ehepaar Dunken aus Rathenow bei Tangermünde. „Dass es Drudenfüße gibt, war uns aber neu“, meinte Barbara Dunken. Dabei handelt es sich um ein Pentagramm, um einen Stern mit fünf Spitzen. „Das war ein Schutzzeichen gegen die Gefahren des Alltags wie Feuer, Krankheit ecetera“, erzählte Siebold. Dass die Resonanz zur Fachwerksführung weitestgehend ausgeblieben ist - nur vier Leute kamen -, kann er sich nicht genau erklären. „Sonntags machen sich viele Reisegruppen auf den Rückweg. Vielleicht lag es auch daran.“ (mz)