Lerncafé der Kreisvolkshochschule Lerncafé der Kreisvolkshochschule: Abc-Schütze mit 29 Jahren

Sangerhausen - Jan ist 29 Jahre alt und kann weder lesen noch schreiben. Noch nicht. Denn er lernt es gerade bei Monika Müller in der Kreisvolkshochschule Sangerhausen. Monika Müller ist 76 Jahre alt, pensionierte Lehrerin und sehr zuversichtlich, dass es ihr Schüler im zweiten Anlauf packt. Beide haben einen Unterrichtsraum für sich ganz allein. Heute haben sich die Beiden Wörter mit „Au“ vorgenommen.
Nur wenig Lehrmaterialien für Menschen, die erst als Erwachsene lesen und schreiben lernen
Immer dienstags und donnerstags sitzen sie hier über Übungsblätter gebeut. Die sehen aus wie für Erstklässler gemacht. Das ist einesteils gut, denn es holt Jan dort ab, wo er früher in der Schule mal ausgestiegen ist. Andererseits ist es für einen erwachsenen Mann schon ein bisschen komisch, mit Büchern für Kinder lernen zu müssen. „Ich behelfe mich mit Unterrichtsmaterialien für Menschen, die Deutsch als Zweitsprache lernen.
Aber es müsste auch Lehrmaterial für Menschen geben, die erst als Erwachsene lesen und schreiben lernen“, sagt die Lehrerin, die mangelndes Lehrmaterial mit viel Lehrerfahrung ausgleicht. Warum Jan niemals richtig lesen und schreiben gelernt hat? Viele Schulwechsel durch Umzüge führt er als Begründung an. Man sieht ihm an, dass er sich schämt.
Irgendwie gelang es ihm, durchs Schulsystem zu kommen, ohne dass es jemandem aufgefallen zu sein scheint, dass der ganze Unterrichtsstoff nur an ihm vorüberzieht.
Wie ein Mann, der nicht lesen und schreiben kann, den Alltag meistert
Jan findet sich aber zurecht in seinem Leben. Er hat eine feste Arbeitsstelle. Der Vertrag wurde ihm nebenbei vorgelesen, und dann habe er ihn unterzeichnet, erzählt er. „Schauen Sie mal“, sagt seine Lehrerin. „Wie schön er jetzt seinen Namen schreiben kann und auch seine Unterschrift sieht toll aus. Früher war das nur Gekrakel.“
Jan kann problemlos auch einen Computer bedienen. Findet im Internet die Informationen, die er braucht und lässt sie sich von der Computerstimme vorlesen. Eine Prüfung habe er nie absolvieren müssen. Bis auf eine, auf die er sehr stolz ist: die Führerscheinprüfung. Pictogramme und Schilder beherrscht Jan nämlich aus dem Effeff.
Aber jetzt will Jan mehr. Er will die Straßenschilder lesen können und sich zurechtfinden, wenn das Navi streikt. Außenstehende wissen bis heute nicht, dass Jan Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat. So wie die meisten Betroffenen hat er Strategien entwickelt, das Lesen zu vermeiden. Er kaufte beispielsweise nur Dinge, die er genau kannte.
7,5 Millionen Analphabeten in Deutschland
Der Schock war groß, als die Universität Hamburg 2011 die „Level-One-Studie“ veröffentlichte und die Zahl der funktionalen Analphabeten in der Bundesrepublik mit 7,5 Millionen Menschen bezifferte.
Im Herbst 2012 starteten unter anderem Bund, Länder, die Bundesagentur für Arbeit und der Bundesverband Alphabetisierung eine nationale Strategie. In Sangerhausen hat sich die Kreisvolkshochschule die Alphabetisierung auf die Fahnen geschrieben und bietet Lerncafés an. Rund 13.000 Menschen im Landkreis, so schätzt man, können nicht richtig lesen und schreiben.
„Allein, wie sollen die Betroffenen darauf aufmerksam werden, dass es uns gibt?“, fragt sich Monika Müller. „Sie können doch die gut gemeinten Texte und Hinweise gar nicht lesen.“ Sie findet, dass hier Familien, Freunde und Arbeitskollegen in der Pflicht sind, ihren Mitmenschen zu helfen, wenn sie bemerken, dass womöglich nicht lesen und schreiben können.
Im Lerncafé der Sangerhäuser VHS ist noch Platz
Natürlich verstecken die Betroffenen ihren Makel meisterlich, aber manchmal vertrauen sie sich doch jemandem an. Und für diesen Fall sollten die Angebote der Volkshochschule bekannt sein. Sie würde sich jedenfalls freuen, wenn noch ein paar mehr Schüler ins Lerncafé kämen.
Der Bedarf sei da. Sie selbst habe vor Jan bereits zwei anderen Schülern das Lesen und Schreiben beigebracht. Die Zwei treffe sie ab und zu mal in der Stadt. „Denen geht es gut. Sie haben das Ziel erreicht, das sie wollten. Zum Beispiel mit ihren Kindern beim Lesen mithalten zu können.“
Ihren Schützling sieht die 76-jährige Sängerhäuserin jetzt auf einem guten Weg: „Er hat ja früher kaum mal mit jemandem geredet. Heute geht er sogar vor ins Büro. Das war im Herbst, als er angefangen hat, noch undenkbar. Er spricht mittlerweile manchmal sogar über sich.“
Lehrerin und Schüler pflegen mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis, dass Ostergrüße per Whatsapp mittlerweile einschließt. Ein Riesensprung für jemanden, der vor kurzem überhaupt nicht lesen und schreiben konnte. (mz)