Fälle in Sachsen-Anhalt Fälle in Sachsen-Anhalt: Neugeborene auf Drogenentzug

Sangerhausen/MZ - Stellen Sie sich vor, aus einem Kinderwagen steigt Zigarettenqualm heraus. Oder eine Mutter füttert ihr Neugeborenes mit Wein und Schnaps. Gibt ihm ganz und gar eigenmächtig Medikamente oder Drogen. Unvorstellbar? Man müsste so jemanden anzeigen? Wer das denkt, hat recht. Und doch passiert mehr ungeborenen Kindern genau das. Sie werden Nikotin, Alkohol und Drogen ausgesetzt. Häufiger, als man es glauben möchte, kommen ungeborene Kinder mit Suchtmitteln in Berührung. Meist sind es die Zigaretten, von denen die werdenden Mütter nicht ablassen können. Zwar sind nicht alle schwer geschädigt. An den Folgen des Suchtmittelkonsums der Mutter leiden sie aber.
Oberärztin Dr. Evlyn Knopf ist seit 1995 Kinderärztin in der Kinderabteilung des Sangerhäuser Krankenhauses. Sie sagt, dass gefühlt immer mehr süchtige Babys zur Welt kommen. „In Deutschland werden jährlich 10 000 Kinder während der Schwangerschaft Alkohol ausgesetzt. Von ihnen tragen etwa 4 000 schwere Schäden davon. Man spricht hier von Alkoholembryopathien“, sagt sie. „Und vor Sangerhausen macht dies keinen Halt. Auch in unserem Haus kommen Kinder zur Welt, die schon vor der Geburt durch Suchtmittel geschädigt wurden.“
Alexandra Kluge, ist seit 2011 leitende Hebamme: „Wir können die Frauen leider nicht von Beginn ihrer Schwangerschaft begleiten, so dass wir ihre Vorgeschichte und Vorerkrankungen nur aus den Eintragungen im Mutterpass entnehmen können, und aus dem geburtshilflichen Aufklärungsgespräch in unserem Haus. Dadurch fehlen uns Informationen und Hinweise, die einen Drogenkonsum belegen könnten. Die Frauen sprechen eher selten offen darüber, aus ganz unterschiedlichen Beweggründen. Scham, Familie oder die Angst vor Behörden sind sicherlich nur einige.“
Süchtig geboren
Susann Lucka ist seit 2012 Assistenzärztin in der Sangerhäuser Helios-Klinik. Sie arbeitet auf der gynäkologischen Station und im Kreißsaal und sagt: „Wir hatten schon einige Fälle bei uns im Haus, dass Kinder abhängig zur Welt gekommen sind.“
Für die Babys heißt, süchtig geboren zu sein, vor allem Schmerzen erleiden zu müssen. „Die Kinder machen einen Entzug durch“, weiß Oberärztin Knopf. „Wenn eine Mutter geraucht hat, gelangte das Nikotin natürlich eins zu eins auch in den Kreislauf des Kindes. Und so wie die Mutter unter Entzugserscheinungen leiden würde, so leidet auch das Kind, wenn es diese Droge nach der Geburt nicht mehr bekommt.“
Auf der nächsten Seite geht es unter anderem mit Ratschlägen für Schwangere weiter.
Unverantwortlich finde sie Ratschläge für Schwangere, sie sollten auf keinen Fall in der Schwangerschaft einen Entzug durchmachen. „Doch. Auf jeden Fall. Jede Zigarette schadet dem Kind. So ein ungeborenes Leben ist es wert, dass man als Mutter das Rauchen aufgibt“, sagt die junge Assistenzärztin engagiert. „Welche Probleme die Kinder haben, erleben wir hier in der Klinik. Meistens geben die Mütter zwar zu, dass sie rauchen oder geraucht haben. Aber bei der Menge der Zigaretten sind die Angaben selten korrekt“, sagt die Hebamme.
Eine stark alkoholisierte Frau brachte erst vor wenigen Tagen in Naumburg ihr Kind zur Welt und sorgte damit landesweit für Negativschlagzeilen. Der Besorgnis erregende Blutalkoholwert, der bei der Mutter gemessen wurde, traf natürlich auch auf das Baby zu, das also praktisch im Vollrausch war.
Schwangere in Konfliktsituationen - und die Abhängigkeit von einem Suchtmittel ist eine Konfliktsituation - finden unter anderem Hilfe beim Verein Arbeits- und Bildungs-Initiative (ABI) in Sangerhausen, Lengefelder Straße 15.
Auskünfte werden dort bei der Abi erteilt zu sozialrechtlichen Ansprüchen, Unterstützungen, Kuren, Not- und Konfliktsituationen. Geöffnet ist die Geschäftsstelle Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 9 bis 12 Uhr und dienstags und donnerstags auch nachmittags von 13 bis 18 Uhr. Telefonisch ist die Beratungsstelle unter der Rufnummer 03464/ 51 51 97 zu erreichen.
Eine Anlaufstelle für Schwangere, die in irgendeiner Form Hilfe benötigen sind auch die Sozialbehörden - wie das Jugendamt oder das Sozialamt - in der Kreisverwaltung.
„Nach unserer Erfahrung korrigieren die meisten die Zigarettenmenge weit nach unten. Denn offenbar regt sich dann doch das schlechte Gewissen.“ Dabei sei es eine Binsenweisheit, dass das Kind in der Schwangerschaft dieselben Stoffe aufnehme wie die Mutter, so die Kinderärztin, die auch schon ganz schlimme Fälle mit ansehen musste. „Alkohol in der Schwangerschaft richtet großen Schaden an. Egal, in welchem Trimester man trinkt. Ganz sensibel ist das erste Trimester, wenn die inneren Organe angelegt werden. Durch die ganze Schwangerschaft hindurch entwickelt sich das Gehirn des Kindes. Es nimmt den meisten Schaden, wenn man Alkohol konsumiert. Und diese Schäden beschränken sich nicht auf den Alkoholentzug nach der Geburt. Wir sprechen von teilweise schweren und schwersten Hirnschädigungen. Die Kinder sind oft ein Leben lang auf Hilfe angewiesen“, berichtet die Kinderärztin aus ihrer Praxis.
Anpassungsstörungen
In ihre Abteilung kommen die Babys, wenn sie nach der Geburt an Anpassungsstörungen leiden. Die meisten Neugeborenen, die im Mutterleib mit Suchtmitteln in Kontakt kamen, sind viel kleiner und schmächtiger. Der Entzug „ihrer“ Droge macht sie unruhig. Lässt sie schreien. Sie sind übererregbar oder krampfen. „Bei sehr schweren Entzugserscheinungen könnte sogar einen Verlegung au feine Intensivstation für Neugeborene nach Halle notwendig werden“, so die Kinderärztin.
Aber nicht alle Knirpse schaffen es. „Es kommt bei Drogenabhängigen - egal, um welches Suchtmittel es sich handelt - viel häufiger vor, dass sie ihr Baby in der Schwangerschaft verlieren. Aborte. Totgeborene Kinder. Plötzlicher Kindstod. All das kommt viel häufiger vor, wenn die Mutter Suchtmittel zu sich genommen hat“, sagte Assistenzärztin Lucka. Mehr und mehr spielen auch so genannte Designerdrogen eine Rolle. Und auch diese richten gewaltige Schäden bei den ungeborenen Kindern an, die darunter - sofern sie es überhaupt überleben - lebenslang zu leiden hätten.
