Zerstörte Lebenswelten Zerstörte Lebenswelten: Über Opfergeschichten der Juden in Quedlinburg zur NS-Zeit

Quedlinburg/Halle (Saale) - Es gab viele Tabus in der DDR - Personen und Ereignisse betreffend, über die man aus Gründen der Opportunität besser zu schweigen hatte. Und manchmal auch der eigenen Sicherheit wegen.
Eines dieser verbotenen Themen aber hätte der sich selbst rhetorisch so antifaschistisch gebärdenden Partei- und Staatsführung eigentlich am Herzen liegen sollen: Das Schicksal der Juden in der Zeit des nationalsozialistischen Rassenwahns.
Aber hier trafen sich die bestenfalls schambesetzte, vielleicht aber auch immer noch ideologiegetränkte Unfähigkeit zu trauern mit dem latenten Antisemitismus der Poststalinisten. Den hatten Ulbricht & Co. im Moskauer Exil kennengelernt, auch bei den Sowjets sollten die Juden an allem Übel schuld sein.
In der DDR wurde der Holocaust teilweise verleugnet
Und später, da der Staat Israel mit dem „imperialistischen Erzfeind“ USA gemeinsame Sache machte, waren die Überlebenden des Holocaust sowieso verdächtig. In der Hierarchie der NS-Opfer rangierten die Juden im DDR-System jedenfalls weit hinten.
Fragte man als junger Mensch vor Ort, dort, wo man aufgewachsen war, nach der sogenannten Kristallnacht, dem Nazipogrom von 1938, oder danach, wie es denn gewesen sein, als man die Juden deportierte, wollte kaum einer der Älteren etwas davon mitbekommen haben: Juden? Gab es hier welche? Es ist alles schon so lange her.
Und dann kamen ja die alliierten Bombenangriffe, denen viele Deutsche zum Opfer fielen. Womit im kollektiven Unterbewusstsein die Rechnung wohl mehr als beglichen zu sein schien.
Die Recherche müsse dort beginnen, wo sie zum Töten fortgebracht wurden
Genau dort aber, in den Städten und Gemeinden, aus denen man die Deutschen jüdischer Herkunft zum Töten fortgebracht hatte, muss die Recherche beginnen. Denn mit dem Weitersagen der unvorstellbar abstrakten Zahl von sechs Millionen ermordeter europäischer Juden ist es allein eben nicht getan.
Aus diesem Grund hatte sich der 1950 in Quedlinburg geborene Eberhard Brecht schon 1987 aufgemacht, jüdische Lebenswege in seiner Heimatstadt zu rekonstruieren: Das große Schweigen in der DDR über die Verfolgung der Juden habe ihn dazu bewogen, schreibt Brecht, der später im Bundestag saß und viele Jahre lang Oberbürgermeister von Quedlinburg war.
Nun hat er, nach früheren Publikationen, den schmalen Band „Zerstörte Lebenswelten“ (hier bei Amazon kaufen) mit Opfergeschichten herausgebracht. Er ist unlängst mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienen.
NS-Opfer in Quedlinburg: Rekonstruktion der Juden-Schicksale
Brecht hat sich in seiner akribischen Arbeit auf die Schilderung jener Einzelschicksale konzentriert, bei denen ihm die Datenlage gesichert schien. Oft ist sie das nicht, weil Unterlagen verloren gegangen sind oder widersprüchliche Angaben vorliegen. Diese hat Brecht dann jeweils kenntlich gemacht.
So ist es etwa bei der Familie Koretzky. Der 1893 in Berditschew (heute Ukraine) geborene Jude Julius Koretzky war während des Ersten Weltkrieges als Gefangener nach Quedlinburg gekommen, hatte Elise Schumann, eine Einheimische, geheiratet und ein Tabakwarengeschäft gegründet. Von den Nazis 1940 in das KZ-Außenlager Groß Rosen deportiert, verstarb er dort ein Jahr später.
Die Familie hatte zwei Kinder, Sonja und Joachim. Sonja, hübsch und blond, galt solange als „Vorzeigearierin“, bis die jüdische Herkunft ihre Vaters bekannt wurde. Sie zog mit Mann und kleinem Sohn nach Nordhausen, dann verliert sich ihre Spur.
Der Witwer gab später an, seine Frau sei in ein Vernichtungslager gebracht worden, ihre elterliche Familie erklärte, Sonja und ihr Kind seien Opfer eines Bombenangriffes geworden.
Vieles wird sich vielleicht nie mehr ganz aufklären lassen, immerhin sind seit den Schreckensjahren der NS-Herrschaft acht Jahrzehnte vergangen. Um so wichtiger ist es, die vorhandenen Spuren und Zeugnisse zu bewahren.
Er wolle dazu beitragen, „die Ermordung von Millionen Juden für uns fassbar zu machen und unsere Empathie zu wecken“, schreibt Eberhard Brecht. (mz)
Eberhard Brecht: „Zerstörte Lebenswelten. Juden in Quedlinburg 1933-45“ (hier bei Amazon kaufen), Mitteldeutscher Verlag, 48 S., 7 Euro