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Rotwildbestände sind von Inzucht bedroht Trifft qualvoller Gendefekt auch die Hirsche im Harz?

Dem Rotwild in Deutschland droht genetische Verarmung. Der Ballenstedter Jäger Alexander Schröder erklärt bei einer Wanderung, was das für die Tierwelt der Region bedeutet und was vor Ort dagegen unternommen wird.

Von Rita Kunze 09.09.2024, 18:30
Die Brunftzeit des Rotwilds hat begonnen. Durch Verinselung der  Reviere sind die Bestände von Inzucht bedroht.
Die Brunftzeit des Rotwilds hat begonnen. Durch Verinselung der Reviere sind die Bestände von Inzucht bedroht. Symbolfoto: DPA

Ballenstedt/MZ. - Im Wald am Großen Dachsteich ist es an diesem heißen Septembertag erfrischend kühl. Vom anderen Ufer dringt ein Röhren - der Brunftschrei eines Rothirschs vielleicht? Die Paarungszeit des Rotwilds hat schließlich begonnen.

Doch in diesem Fall ist das Geräusch menschengemacht: Es gehört zum Programm, das die Jägerschaft Quedlinburg mit dem Harzklub-Zweigverein und dem Countryclub Ballenstedt auf die Beine gestellt hat. Im Wald vor den Toren der Stadt folgt der Jäger Alexander Schröder mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen der Spur des Rotwilds, das derzeit genauer untersucht wird. Denn die Bestände in Deutschland sind bedroht von Inzucht.

Alexander Schröder, Leiter des Hegerings Ballenstedt, erklärt den Teilnehmern der Rotwildwanderung den Aufbau eines Hirschgeweihs.
Alexander Schröder, Leiter des Hegerings Ballenstedt, erklärt den Teilnehmern der Rotwildwanderung den Aufbau eines Hirschgeweihs.
Foto: Kunze

Der Deutsche Jagdverband verweist auf eine Studie der Universität Göttingen, die 34 Rothirsch-Vorkommen in Deutschland untersucht hat. Nur zwei dieser Vorkommen sind demnach so groß, dass sie langfristig vor Inzucht geschützt sind.

Die Auswirkungen der genetischen Verarmung werden beispielsweise durch verkürzte Unterkiefer sichtbar, erklärt Schröder und berichtet von Studien aus Schleswig-Holstein: „Der Unterkiefer war um fünf, sechs Zentimeter verkürzt.“ Damit könne ein Tier gar nicht mehr oder nur noch unter Qualen äsen.

Genproben sollen Klarheit über Gesundheitszustand des Rotwilds bringen

Hier im Harz seien solche Hirsche noch nicht gefunden worden, aber der Landesjagdverband Sachsen-Anhalt habe aufgerufen, genetische Proben von erlegten Tieren zu nehmen. Auch der Hegering Ballenstedt ist dem Aufruf gefolgt. Mit den Blut- und Gewebeproben sollen Daten gesammelt, analysiert und ausgewertet werden. Dass solche Missbildungen auch bei hier heimischen Hirschen auftreten könnten, sei vorstellbar, „aber ich weiß es nicht“, sagt er.

Wenn es so weitergeht wie jetzt, kann es passieren, dass wir in 100, 200 Jahren keine Rothirsche mehr hier haben.

Alexander Schröder, Leiter des Hegerings Ballenstedt

Die Ursache dieses Problems ist menschengemacht: Die Zerschneidung der Landschaft, beispielsweise durch Autobahnen, führt zu einer Verinselung der Reviere, so dass ein genetischer Austausch schwer erfolgen kann. Da helfen auch eigens gebaute Wildbrücken nicht, wenn sie zu weit auseinander liegen, betont Schröder. Im Verlauf der A 36 im Landkreis Harz gibt es beispielsweise nur eine einzige: bei Westerhausen. Die nächste folgt in Richtung Niedersachsen bei Flöthe, rund 59 Kilometer entfernt, in Richtung Seeland gibt es eine Wildbrücke bei Hoym, etwa 26 Kilometer von Westerhausen entfernt.

Wildbrücken -  hier eine Luftaufnahme von der A 12 - gibt es nach Ansicht der Jäger zu wenige. Bei Rothirschen droht durch Verinselung Inzucht.
Wildbrücken - hier eine Luftaufnahme von der A 12 - gibt es nach Ansicht der Jäger zu wenige. Bei Rothirschen droht durch Verinselung Inzucht.
Foto: dpa

Bei der Schaffung von Straßen und Infrastruktur sollte mehr Wert auf das Wild gelegt werden, fordert Schröder. „Sonst kann es passieren, wenn so weitergeht wie jetzt, dass wir in 100, 200 Jahren keine Rothirsche mehr hier haben.“

Wie hoch der Bestand in den Wäldern der Region ist, lässt sich nur schätzen, sagt Schröder weiter. Grundlage dafür bildet die Zahl der erlegten Tiere. Im Altkreis Quedlinburg sind es jährlich etwa um die 400. Um herauszufinden, wie groß der Bestand tatsächlich ist, brauche man ein Wildmonitoring. „Da sind uns die Österreicher weit voraus, sie führen ein Wildmonitoring am lebendigen Tier durch und zählen die Population.“ So könne man erkennen, wie der Gesundheitszustand der Tiere ist, und entscheiden, ob mehr oder weniger gejagt werden muss.

Doch Jagd auf Hirsche machen auch andere: „Luchs und Wolf bringen Bewegung in die Sache.“ Aber der Wolf gehe zuerst ins Muffelwild, das sich leichter jagen lässt als Rothirsche. Nun soll aber die Artenvielfalt erhalten bleiben: „Wir haben hier die reinrassigste Muffelpopulation in ganz Europa.“

„Wir Jäger sind in einem Gewissenskonflikt“

Zugleich vermisst der Ballenstedter konkrete Angaben über den Wolfs- und Luchsbestand. „Das ist ein sehr emotionales Thema, aber man sollte neutral mal alle Zahlen auf den Tisch legen. Dann kann man ermitteln, ob es einen Überbestand an Wölfen gibt, ob der Überbestand passt und wie der Bestand mit dem Rotwild aussieht, wie der genetische Pool ist.“ Schröder geht noch weiter und spricht sich für ein revierübergreifendes Jagdmanagement aus.

Dann ist da noch der Waldumbau mit sehr vielen jungen Bäumen, mittendrin das Rotwild, das mit dem Verbiss junger Triebe auch viel Schaden anrichtet. „Deswegen sind wir Jäger in einem Gewissenskonflikt“, erklärt er. „Auf Grundlage des Waldbaus müssen wir eigentlich das Rotwild reduzieren, aber wir wollen auch hegen.“ Den unterschiedlichen Interessen der Förster beim Waldbau, der Landwirte bei der Pflanzenproduktion und die Jäger gerecht zu werden, sei kompliziert.

„Wir Jäger sind immer dazwischen“, sagt Alexander Schröder. Er könne Forst- und Landwirte verstehen, denn „wir wollen alle den natürlichen Rohstoff Holz haben, wir wollen auch das Brot vom Acker haben. Da einen Kompromiss zu finden, ist gerade ein bisschen schwierig.“