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Quedlinburg Quedlinburg: Venedig vor der Haustür

Von MAIKE KÖNIG 25.10.2010, 15:23

QUEDLINBURG/MZ. - Einige Quedlinburger staunten am Sonnabend nicht schlecht, als sich ihnen auf dem Markt ein doch eher ungewöhnlicher Anblick bot. Vor der Quedlinburg-Information hatte sich eine 17-köpfige Gruppe aus Einheimischen und Touristen zusammengefunden, die für eine Stadtführung bei goldenem Herbstwetter eher seltsames Schuhwerk trug. Ausgestattet mit Gummistiefeln jeder Größe und Farbe, hatten sich die Gruppenmitglieder jedoch nicht gegen wolkenbruchartige Regenfälle gewappnet, sondern für eine Sonderstadtführung durch das innerstädtische Grabensystem Quedlinburgs.

"Geheime Orte"

Unter dem Motto "Geheime Orte" hatten alle acht Städte der Städtekooperation "Stadtsprung. Städte zwischen Harz und Elbe", der auch Quedlinburg angehört, besondere Erlebnisführungen zu ungewöhnlichen oder normalerweise unzugänglichen Orten angeboten. Nachdem die Quedlinburger Stadtinformation in den vergangenen Jahren bereits Führungen in die Höhlen am Münzenberg oder unterhalb der Altenburg angeboten hatte, fiel die Wahl in diesem Jahr auf das Grabensystem der Stadt.

So geht es also vom Marktplatz aus zunächst noch trockenen Fußes in Richtung Steinbrücke, wo Stadtführer Klaus Eberding die Entstehung und die Nutzung des Grabensystems erklärte. Sowohl Mühl- als auch Stiefelgraben, die von der Bode gespeist werden, seien vor der Industrialisierung reich an Fischen gewesen, erzählt er. Bis 1914 hätte es noch Berufsfischer in Quedlinburg gegeben, später jedoch sei das Grabensystem zunehmend verschmutzt, so dass es kaum noch Fische gab. Heute könne man wieder einige der Wassertiere entdecken, meint der Stadtführer, woraufhin einige der Gäste prompt einen kleinen Fisch entdecken. Weiter geht es durch die Word in den Wordgarten, wo Klaus Eberding die Teilnehmer der Sonderführung auf eine Hochwassermarkierung am Wordhaus aufmerksam macht. Über einen Meter hoch habe hier zu Silvester 1925 / 1926 das Wasser gestanden weiß er, und zeigt alte Fotografien, die das überschwemmte Quedlinburg zeigen. Erst mit dem Bau der Rappbodetalsperre ab 1952 hätten die Überschwemmungen ein Ende gehabt. Nach einem kurzen Abstecher zum Schiffbleek, wo sich früher eine Furt befand, geht es dann am Stiefelgraben entlang durch den Wordgarten zurück bis zum ehemaligen Hospital St. Spiritus, das vor allem bei den Touristen in der Gruppe große Bewunderung findet.

Hinter diesem Haus befindet sich schließlich der Einstieg in den Mühlgraben, womit der außergewöhnliche Teil der Führung beginnt. Im Gänsemarsch begeben sich die Teilnehmer über unebene Steinstufen hinab. Einmal im flachen Wasser angekommen, bietet sich dem Betrachter eine ungewohnte und vollkommen andere Perspektive auf die Stadt. Hinterhöfe und Fassaden, die sonst den Blicken der Bewohner verborgen bleiben, zeigen auch den Einheimischen ein neues Bild ihrer Stadt. Nur einige Meter watet die Gruppe durch das kühle Wasser, da bietet sich ihnen schon ein weiterer ungewöhnlicher Anblick. In die Grabenmauer eingebaut, findet sich ein alter Grabstein aus dem Jahr 1687, dessen Inschrift kaum noch zu entziffern ist. Jérôme Bonaparte, jüngster Bruder Napoleons und König von Westphalen, sei indirekt für die ungewöhnliche Verwendung dieses Grabsteins verantwortlich, erklärt Klaus Eberding seinen interessierten Zuhörern. So seien unter Jérômes Befehl alle Friedhöfe rund um die Kirchen der Stadt aufgelöst und an den Stadtrand verlegt worden. Die so überflüssig gewordenen Grabsteine seien deshalb als Baumaterial verwendet worden, erzählt Eberding und zeigt noch einen weiteren, kleineren Grabstein. Anschließend macht er sich auf den Weg tiefer hinein in das Grabensystem, wo auf die Teilnehmer die erste sportliche Herausforderung wartet. Im Entengang, immer darauf bedacht, einen plötzlichen Wassereinbruch in die Stiefel zu vermeiden, geht es nun unter einer schmalen Brücke hindurch bis an die zuvor besichtigte Steinbrücke. "Hier befinden wir uns in Klein-Venedig", erklärt Eberding lachend, und tatsächlich fühlt man sich ein wenig an die italienische Lagunenstadt erinnert. Hier seien in früheren Zeiten ein Waschplatz und eine Toilette gewesen, erzählt Eberding und verweist auf einen Steinvorsprung an einer Hauswand. "Danach ging alles den Bach runter", meint er grinsend.

Weiter geht es knapp einen Kilometer durch den teilweise stark bewachsenen Mühlgraben unter anderem am Mertensturm und dem Hagenschen Freihaus vorbei. Nicht aus der Vogel-, sondern aus der Froschperspektive blickt die Gruppe auch auf die Bosseschule und das St. Annen Hospital. Obwohl das Wasser für kurze Gummistiefel stellenweise gefährlich tief ist und der unebene Boden manche zum Straucheln bringt, bleiben alle Teilnehmer vor einem unfreiwilligen Bad im kalten Grabenwasser bewahrt. Auch die Befürchtung einiger, dass der Graben sehr verschlammt sei, bestätigt sich nicht. Nach knapp zwei Stunden geht die Gruppe dann in der Grabengasse wieder an Land. Trotz kalter Füße zeigen sich alle hellauf begeistert. "Das war mal was ganz anderes", meint Martina Kürten aus Liebenburg bei Goslar, die durch eine Ankündigung in der Goslarschen Zeitung auf die Sonderführung aufmerksam wurde. Schon mehrere Male sei sie in Quedlinburg gewesen, erzählt sie, die Stadt einmal auf diese Weise zu erkunden sei "ganz toll" gewesen.

Viel Aufwand

Trotz des großen Zuspruchs der Teilnehmer soll diese Sonderführung laut Udo Glathe, Mitarbeiter der Stadtinformation, kein reguläres Angebot werden. Der bürokratische Aufwand sei dafür zu groß, meint er und verweist auf Versicherungen und die Anmeldung der Führung bei der Wasserwirtschaft. Außerdem würde durch ein reguläres Angebot der Reiz verloren gehen. "Möglicherweise kann diese Sonderführung einmal im Jahr angeboten werden, einen genauen Plan haben wir jetzt allerdings noch nicht", erklärt er.

Sicher ist, dass es auch im nächsten Jahr wieder eine außergewöhnliche Führung im Rahmen der Aktion "Geheime Orte" geben wird. Welcher sonst unzugängliche Ort in Quedlinburg dann ausgewählt wird, ist noch offen. Wie es scheint, müssen sich die Quedlinburger also nicht an den Anblick von Touristengruppen mit seltsamem Schuhwerk gewöhnen. Die "Gummistiefelführung" bleibt, zumindest vorerst, eine Ausnahme.