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Krisengebiet Krisengebiet: Wernigeröderin reist nach Gaza

02.04.2015, 10:59
„Überall ist Leben“: Kinder spielen in Ruinen.
„Überall ist Leben“: Kinder spielen in Ruinen. Regina Bernhardt Lizenz

wernigerode/gaza/MZ/iku - „Nur weil wir aus Gaza kommen, sind wir keine Aliens. Wir haben ganz genau dieselben Bedürfnisse wie alle Menschen auch!“ Diese eindringlichen Sätze sind Regina Bernhardt, die an der Hochschule Harz in Wernigerode als Dozentin für Englisch und Deutsch arbeitet, in den Ohren geblieben. Gehört hat sie sie im Februar 2014 bei einem internationalen Kommunikationstraining im Westjordanland von Mahmoud. „Es war der Anfang unserer Freundschaft“, sagt die 52-Jährige, die 1998 in den Harz kam und seit 2006 in Wernigerode lebt.

Fünf Monate später tobte Krieg in Gaza. „Wann immer die Stromversorgung in Gaza funktionierte, waren wir per E-Mail in Kontakt“, erinnert sich Regina Bernhardt. Das Haus von Mahmouds Nachbarn wurde bombardiert. Er selbst, seine Frau und die beiden Kinder - vier Monate und zwei Jahre alt - verbrachten Nächte auf dem Küchenfußboden in der Hoffnung, dass dies der sicherste Ort sei. „Wir versprachen uns, einander wiederzusehen, wenn sie überleben sollten“, sagt Regina Bernhardt.

Kontrolle am Hamas-Checkpoint

Februar 2015. Kommunikationstraining im Westjordanland. Diesmal ohne Mahmoud. Die israelischen Behörden hatten seinen Reiseantrag abgelehnt. Stattdessen versuchte Regina Bernhardt ihn und seine Familie in Gaza zu besuchen. „Alle sagten, es sei unmöglich...“

Es gibt nur zwei Grenzübergänge nach Gaza: Einen von Ägypten - der aber derzeit geschlossen ist - und einen von Israel, der für Privatpersonen geschlossen ist. Nur Mitarbeiter internationaler Nicht-Regierungsorganisationen und Journalisten mit israelischem Presseausweis dürfen einreisen - und auch sie haben keine Garantie. „Meine Bemühungen dauerten Wochen, ich schrieb unzählige E-Mails, machte mich kundig, manches Mal schien alles einfach zu hoffnungslos. Nie wusste ich, ob der nächste Schritt gelingen würde“, so Regina Bernhardt.

Nach immer neuen Versuchen und Problemen steht Regina Bernhardt am 4. März am Grenzübergang Erez. Es gibt drei Kontrollen: die israelische, die palästinensische und den Hamas-Checkpoint. „Dort erfahre ich, dass der israelische Checkpoint am kommenden Mittag für zweieinhalb Tage schließt. Der erste dann mögliche Ausreisetag ist bereits mein Rückflugtag. Aus den geplanten drei Tagen in Gaza werden 20 Stunden.“

„Ich gehe allein die einzige Straße entlang. Sofort sehe ich zerstörte Häuser - aber auch Menschen, die mich anschauen, lächeln, mich grüßen, auf mich zukommen. Frauen, Kinder, ein Mann. Meine fünf Sätze Arabisch sind ausreichend für einen Kontakt“, so Regina Bernhardt. Auf der staubigen Straße fahren Autos, auch Karren, vor die Esel oder dünne Pferde gespannt sind, teilweise von Kindern gelenkt. „Alle wollen mir helfen.“

Mehr über das alltägliche Leben im Gaza-Streifen lesen Sie auf der nächsten Seite.

Mahmoud kommt. „Die Freude über unser Wiedersehen ist unbeschreiblich. Wir haben das Unmögliche geschafft - ein Sieg von Freundschaft über politische Barrieren“, sagt Regina Bernhardt. „In Deutschland ist Gaza seit dem Kriegsende fast verschwunden aus den Medien - für die Menschen hier sind die Nachfolgen des Kriegs tägliche bittere Realität. Kinder spielen im Schutt der eingestürzten Häuser. Aufbauarbeiten sehe ich wenig. Von der international versprochenen Wiederaufbauhilfe in Milliardenhöhe hat Gaza so gut wie nichts erreicht“, so die Deutsche. Aber das Leben, der Alltag der Menschen in Gaza gehe weiter: Gruppen von Schulmädchen mit weißen Kopftüchern, Verkäufer, Frauen mit Kindern, Frauen in Schwarz, Männer, die vor einem Bankautomaten Schlange stehen. „Überall ist Leben.“

Mahmouds Frau, die - wie er auch - einen Universitätsabschluss hat, hat ein köstliches Essen vorbereitet. Zuvor wird die Besucherin zum Fenster geführt: Da liegt direkt neben dem Haus ein großer Schutthaufen - das, was übrig geblieben ist vom Haus des Nachbarn. Mahmouds Frau kommt aus dem Westjordanland. Sich für ihre Liebe zu ihrem Mann zu entscheiden hatte Konsequenzen: Die Trennung von ihrer Familie. Ihren Eltern war es nicht erlaubt, zu ihrer Hochzeit zu kommen. Einmal hat sie mit dem ersten Sohn zu ihnen reisen können; ihr zweites Enkelkind kennen sie nur von Bildern.

Das Wohnzimmer der Eltern dient der ganzen Familie. Hier treffen sich die Geschwister, ihre Ehepartner, die Enkelkinder. Mahmouds Bruder und seine Frau haben ihr erstes Kind am letzten Tag des Gazakrieges 2012 bekommen, ihr zweites Kind am letzten Tag des Gazakrieges 2014. Im Juli hatte die Schwester geheiratet, statt Flitterwochen gab es den Krieg. Irgendwann holt der Vater ein Buch aus dem Regal: „Deutsch für alle“ - ein DDR-Lehrbuch von 1974. „Alle heißen mich willkommen, wir reden, hören zu, lachen, werden manches Mal ernst.“

Wünsche für die Zukunft

Beim Abendessen fragt Regina Bernhardt, was die Deutschen wissen sollen über die Menschen in Gaza. „Dass wir leben wollen!“, kommt sofort die Antwort von Mahmouds jüngster Schwester. Andere ergänzen: „Dass wir normal leben wollen. Mit Strom und sauberem Wasser, vor allem ohne Angst vor einem neuen Krieg.“ „Dass wir reisen wollen, ich möchte die Welt sehen!“

Am Morgen ist nach einem Frühstück mit selbstgebackenem Schokoladenkuchen auch schon Abschied angesagt. Auf der Fahrt zum Checkpoint gibt der Schaltknüppel in Mahmouds Auto den Geist auf. Regina Bernhardt: „Wir schaffen es gerade noch, den Wagen an den Straßenrand zu befördern. Sofort sind vier junge Männer da. Einer steigt ins Auto, ein anderer läuft los und kommt mit einem Metallstab zurück.“ Der Schaltknüppel ist mittlerweile ausgebaut, an seine Stelle kommt der Stab. „Alles geschieht in entspannter, freundlicher Atmosphäre. Natürlich kannte Mahmoud die Männer nicht“, sagt Regina Bernhardt. Zu ihr sagen sie „Ahlan-wa-sahlan“, „Herzlich willkommen“. „Ich bin beeindruckt von der spontanen Hilfsbereitschaft, dem Improvisationstalent und der Kreativität“, sagt sie.

„Kurze Zeit später endet meine Reise durch die Checkpoints vor einer Metalltür“, so Regina Bernhardt. Dahinter folgen noch eine Metalldrehtür mit einer Ampel und weitere Kontrollen. „Um halb eins stehe ich wieder da“, sagt Regina Bernhardt, „wo meine Einreise nach Gaza 20 Stunden zuvor begann.“

Mahmoud.
Mahmoud.
Regina Bernhardt Lizenz
Der Grenzübergang Erez.
Der Grenzübergang Erez.
Regina Bernhardt Lizenz