Kinder- und Jugendheim Gernrode Kinder- und Jugendheim Gernrode: Ein kompletter Neuanfang

Gernrode - Noch unschlüssig blättert Felix (Name von der Redaktion geändert) in dem Farben-Katalog. Der liegt neben dem Igel, den der 14-Jährige in der Kreativwerkstatt des Kinder- und Jugendheims Gernrode aus Gießton gefertigt, und der kleinen Schale, die er geformt hat. Beide sollen nun farbig bemalt werden.
Seine Mutter soll die Arbeiten bekommen, sagt der 14-Jährige - und entscheidet sich. „Ich nehme ,Efeu‘ und ,Eisblumen‘“, sagt er und greift nach den Farbtöpfen.
Felix, der erst seit kurzem in Gernrode ist, ist an jenem Mittag der einzige Bewohner, der sich in den Räumen in der Waldstraße aufhält. „Alle sind in den Schulen“, sagt Lutz Kaufhold, Heimleiter und Geschäftsführer. Ein Erfolg, der alles andere als selbstverständlich ist.
Kinder- und Jugendheim Gernrode: Hoch spezialisierter Träger
Im Kinder- und Jugendheim, das seit 26 Jahren in freier Trägerschaft des Vereins Kinder- und Jugendhilfswerk ist, kümmern sich rund 90 Mitarbeiter um 50 Kinder und Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet.
Der Standort in der Gernröder Waldstraße - mit derzeit 22 Bewohnern - ist dabei einer von mehreren; weitere Wohngruppen gibt es unter anderem in Ballenstedt und Thale.
„Wir sind ein hoch spezialisierter Träger der stationären Jugendhilfe“, erklärt Lutz Kaufhold.
„Die Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, haben massive psychische und soziale Probleme und Auffälligkeiten. Sie kommen aus Familien, die an irgendeiner Stelle nicht mehr zurechtgekommen sind, die überfordert waren mit der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder“, sagt der Heimleiter.
Und erklärt: „Eltern, die überfordert sind, fangen an, Kinder zu schlagen, sie zu vernachlässigen oder sich frei zu kaufen mit einem überdimensionierten Taschengeld.“
Doch Kinder würden Erwachsene brauchen, die ihnen Liebe geben; sie würden Halt, Regeln und Orientierung brauchen, „den roten Faden, um sich selbst in der Welt verorten zu können“, so der Heimleiter.
Jürgen Meusel
Vor dem Gebäude befindet sich ein Gedenkstein für Anna Steil und Elfriede Dreyscharff, die hier 1920 ein Mädchenstift gründeten.
Kinder- und Jugendheim Gernrode: Betreuung in kleinen Wohngruppen
Das wollen die Mitarbeiter beim Kinder- und Jugendhilfswerk den Kindern und Jugendlichen geben. Für diese sei das ein Neuanfang, sagt Lutz Kaufhold. „Hier geht es immer um einen Neuanfang.“
So werden die 6- bis 13-, 14-Jährigen in der Waldstraße in kleinen Wohngruppen mit maximal fünf, sechs Plätzen betreut, leben wie in einer kleinen Familie.
Sie haben eigene Zimmer, die sie auch selbst gestalten dürfen, und Gemeinschaftsräume.
„Mit den kleinen Gruppen und einem familienanalogen Tagesablauf wollen wir die Welt, wie sie draußen ist, möglichst naturgetreu abbilden“, so der Heimleiter.
Darüber hinaus gibt es auf dem Gelände in der Waldstraße Gruppenübergreifendes wie den therapeutischen Bereich unter anderem mit Fahrradwerkstatt, Sport, Antigewalttraining und Kreativwerkstatt.
„Wir arbeiten mit Konsequenz“, erklärt Lutz Kaufhold.
So wüssten die Kinder und Jugendlichen, welche Folgen es habe, wenn sie sich nicht an Regeln halten würden.
Geschaffen würden ebenso Anreize: Laufe es gut, sei beispielsweise am Wochenende auch einmal eine Stunde mehr Fernsehen drin.
Kinder- und Jugendheim Gernrode: Gewalt und Traumata
Ein „ganz wichtiger Punkt“ sei die Integration der Kinder und Jugendlichen in Schulen, erklärt Lutz Kaufhold. „Die meisten unserer Kinder haben Gewalt erlebt, haben Traumata. Da kann man in der Schule schlecht folgen“, sagt der Heimleiter.
Manche seien ein, zwei Jahre nicht mehr in der Schule gewesen.
Im Heim in Gernrode erhalten die Kinder und Jugendlichen anfangs Einzelunterricht, erläutert Uta Gustke, Bereichsleiterin und verantwortlich für die Gebiete Therapie und Schule.
Für diesen Unterricht kommen Lehrer in das Heim.
Kinder- und Jugendheim Gernrode: Inklusion schon vollzogen, bevor es das Wort gegeben hat
Um den Kindern den Weg zu ebnen, wieder in den Schulen aller Formen zu lernen, arbeite das Heim eng diesen zusammen, so Uta Gustke. „Wir sind die Einrichtung, die Inklusion schon gelebt und vollzogen hat, bevor das Wort überhaupt erfunden wurde“, sagt die Bereichsleiterin, die seit 1990 in Gernrode arbeitet - und das sehr gern, wie sie betont. „Es sind tolle Kinder.“
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Die IG Metall Halberstadt hat dem Kinder- und Jugendhilfswerk Gernrode eine Spende in Höhe von 500 Euro übergeben. Im Rahmen ihrer bundesweiten Beschäftigtenbefragung „Politik für alle – sicher, gerecht und selbstbestimmt“ hatte die IG Metall für jeden ausgefüllten Fragebogen einen Euro für soziale Projekte in der Region gespendet. Bei der IG Metall Halberstadt beteiligten sich 2.433 Beschäftige an der Befragung. Der Ortsvorstand der Geschäftsstelle - Betriebsräte aus 13 Betrieben der Harz- und Bördere-gion - entschied, die aufgestockte Spendensumme von 3000 Euro auf sechs gemeinnützige Vereine aufzuteilen. Für das Gernröder Kinder- und Jugendhilfswerk entschied er sich, da hier Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen und Entwicklungsstörungen wertvolle und notwendige sozialpädagogische Betreuungen und Therapien erhalten. „Der Ansatz der Arbeit, wie er beim Kinder- und Jugendhilfswerk gemacht wird, hat uns sofort überzeugt. Das ist etwas Besonderes“, erklärte Gewerkschaftssekretär Burkhard Büttner. „Für den therapeutischen Bereich brauchen wir vielfältige Materialien“, sagte Heimleiter Lutz Kaufhold. „Die Spende kommt so allen Kindern zu Gute.“ (mz)
