Kinder im Paradies der Disteln
Neinstedt/MZ. - Aufgrund der naturnahen und nachhaltig bewirtschafteten Forstflächen, auf denen selbst der wertvolle Rohstoff Holz auf eine natürliche Weise produziert wird, erfüllen die Wälder noch weitere besonders wichtige Funktionen. Der Wald dient als Erholungsraum für unzählige Menschen und filtert die Luft von Schadstoffen und verbessert die Bodenqualität, speichert Wasser und schützt vor Erosion. Für den Erhalt und die Pflege engagieren sich tagtäglich viele Menschen. Ihnen und ihrer Arbeit widmet sich der Quedlinburger Harz-Bote in einer Artikelserie. Heute...
Fährten im Schnee wollte Kevin lesen. Doch die weiße Pracht fehlte an diesem Januartag. Ganz leichter Frost sorgte dafür, dass der Matsch nicht zu matschig war, die klare Luft, dass sich die Harzberge und die Teufelsmauer noch klarer vom Horizont abhoben. Der Weg in die Schule verlief für die 1. Klasse der Grundschule "Hans Christian Andersen" und Schüler der Johannenschule etwas anders. Besuchten sie an diesem Tag doch die "Schule im Wald".
Und ihre beiden Lehrer und Schulleiter, Antje Beier und Hans-Jürgen Franke, standen nicht vor den Klassen, sondern begleiteten sie nur. Das Sagen hatten an diesem Tag Thomas Gärtner, der wie die meisten Schüler in Neinstedt zu Hause ist, und seine Kollegin Kerstin Österreich. Sie gehören zum Team des Jugendwaldheimes "Lindenberg" in Blankenburg, das eine von fünf waldpädagogischen Einrichtungen des Landesbetriebes für Privatwaldbetreuung und Forstservice ist. "Neben den einwöchigen Jugendwaldeinsätzen für über 14-jährige Schüler und Projekttage mit dem Schwerpunkt Wald bieten wir solche Waldschultage an", erläutert Karin Klinghardt, die das Jugendwaldheim leitet.
"Hier geht es um Umweltbildung im besten Sinne", erklärt Thomas Gärtner, der in seiner Freizeit in der Kreisjägerschaft aktiv ist. "Bei den Kindern muss doch heute erst einmal wieder das Naturverständnis entwickelt werden. Das scheint bitter nötig. Wir setzen dabei auf eine ganzheitliche Wahrnehmung. Wenn die Kinder fühlen, riechen, hören, dann ist das ein bleibendes Erlebnis für sie. Nachhaltig gestaltet sich so ein Waldschultag doch dadurch, dass die Kinder alles selber praktizieren können. Wir spüren immer wieder eine große Dankbarkeit - bei Schülern wie Lehrern." Als Konkurrenz zum Sach- und Heimatkundeunterricht versteht das Jugendwaldheim seine Angebote nicht, sondern als sinnvolle Ergänzung und Vertiefung.
"Gegenwärtig steht das Landwirtschaftsministerium voll hinter uns, finanziert unseren gesamten Einsatz für die Umweltbildung. Hoffen wir, dass in der Zeit, in der bei Holz und Wald starke Wirtschaftlichkeitserwägungen regieren, die gleichen Maßstäbe nicht an uns in der Bildung gelegt werden." Schon wenige hundert Meter nachdem die Schüler sich auf den Weg gemacht haben, verharren sie. Förster Thomas Gärtner weist auf niedergetretenes Gras unter einen Zaundraht. Lukas, Tim und die anderen Kinder beugen sich hinunter. "Das nennt man Wechsel. Das sind die Straßen für die Tiere. Sie kommen aus dem Wald und gelangen hier entlang auf dieses Feld am Kahlenberg."
Plötzlich Pferdehufe
Plötzlich ruft ein Mädchen ganz aufgeregt: "Hier sind Spuren." Doch weder Wildschwein, noch Reh oder Fuchs waren durch den Schlamm getrampelt: Pferdehufe ziehen ihr Band auf dem Weg entlang. Zeit für eine weitere Aktion. Auch wenn der Winter noch nicht sehr kalt und schneereich war, die Kinder wissen trotzdem, dass sich die Tiere vor der kalten Jahreszeit mit Nahrung eindecken mussten. Kerstin Österreich greift in einen Beutel voller Nüsse. Jedes Kind darf nun im Areal oberhalb des Rastplatzes seine "Winternahrung" verstecken. Wenig später gilt es, die Schätze wieder einzusammeln. Betreten schauen einige Kinder drein. "Ich habe nur eine Nuss wiedergefunden", vermeldet ein Johannenschüler. "Ich gar keine", klingt es aus der anderen Ecke. Geduldig erklären Kerstin Österreich und Thomas Gärtner, was das für ein Eichhörnchen bedeuten könnte. "Wenn Nahrung fehlt, kommen sie vielleicht nicht über ihre Winterruhe."
Wenke Decker, die pädagogische Mitarbeiterin von der Neinstedter Grundschule "Hans Christian Andersen", freut sich, wie sehr der Wald-Lehrer auf die Kleinen eingeht. "Es macht richtig Spaß, da zuzuhören." Für Schulleiter Hans-Jürgen Franke, der auch Klassenlehrer der Kinder von der staatlich anerkannten Sonderschule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung ist, reiht sich der Waldschultag in ein Projekt ein, das sich über das gesamte Schuljahr erstreckt. "Wir haben da weit mehr Zeit und Möglichkeiten als die Kollegen an der Grundschule. Da ist so eine Veranstaltung sehr hilfreich. Aber wir werden mit dem Jugendwaldheim auch weiter zusammenarbeiten. Es ist geplant, Naturmaterialien zu sammeln und mit den Schülern zu basteln." Seine Kollegin von der Grundschule "Hans Christian Andersen", Schulleiterin Antje Beier, verweist auf die langjährige Partnerschaft ihrer Schule mit der Johannenschule.
"So erleben behinderte und nicht behinderte Kinder auf der Exkursion den ganz unverkrampften Umgang miteinander." Auch sie ist sehr angetan von den lebendigen und kindgerechten Erklärungen. "Den Thomas hatte ich ja schon als Schüler", ergänzt sie. "Da bewegt sich etwas", ruft ein Junge und weist mit dem Finger in Richtung Kahlenberg, wo sich wirklich Gestrüpp zu biegen scheint. War es ein Bussard oder doch ein Reh? Trotz andächtigem Blick vieler Kinderaugen in die angegebene Richtung, geklärt werden kann das diesmal nicht.
Doch der Berg gilt bei Naturfreunden als wahres Paradies. Adonisröschen, Golddisteln und Orchideen haben auf den Kalkhügel ihre Heimat. Bessere Sicht haben die rund 25 Wald-Schüler von einem Hochstand, den sich nach ausführlicher Belehrung besteigen dürfen. "Schließlich stehen in der Landschaft oft noch Exemplare, deren Besteigung für Wanderer lebensgefährlich ist." Thomas Gärtner erklärt ihnen, warum Jäger die Wildbestände hegen und dass Wildschweine oder Damwild durch gezielte Bejagung in den Revieren auf einem ökologisch vertretbaren Niveau gehalten werden. In einem Waldrandstück testen die Kinder dann ihre Sinne. Hatten sie zuvor einen Dachsbau gesehen und vom Bau des Fuchses gehört, spielten sich nun das Anschleichen eines Fuchses auf ein als Häschen in der Sasse sitzendes Kind nach.
Irgendwann in der Mittagssonne nehmen die Schüler Abschied von den Mitarbeitern des Jugendwaldheimes. Kevin von der Johannenschule meint: "Wir sehen uns wieder." Das wird ganz sicher geschehen, denn Karin Klinghardt wird in den kommenden Tagen mit Schulleiter Franke über die weiteren Veranstaltungen des Wald-Projektes reden. "Das gehört zu unserer Waldpädagogik dazu", meint die Waldheim-Chefin, die bis Januar 2006 rund 20 Jahre in der Holzvermarktung tätig war. Schließlich reiche ihre Arbeit über das Organisieren von Jugendwaldheimaufenthalte hinaus. "Diese bieten zwar die intensivste Form der Auseinandersetzung mit dem Wald, aber wir gehen auch in die Schulen." Schülergruppen ab der 8. Klasse lernen bei ihr den Wald hautnah kennen und gestalten ihn aktiv mit. Morgens um 6 Uhr aufstehen und am Vormittag mit erfahrenen Waldarbeitern in der Forst tätig zu werden, dass sei kein locker-flockiger Klassenausflug.
Biotope angelegt
Im Jugendwaldheim "Lindenberg" in der Oesig von Blankenburg wohnen sie eine Woche und machen sich im Wald nützlich. Saatgut ernten die jungen Leute, lichten Jungwüchse aus, bauen Wege und legen Biotope an. Unweit des Waldheimes entsteht ein Arboretum, 2006 richteten Schüler ein Insektenhotel ein und brachten Hölzer zum Klingen. "Wir spüren, wie wir Jugendliche für die Natur und den Wald sensibilisieren. Hier entsteht nichts für sie, sondern alles mit ihnen", meint Karin Klinghardt. "Da verstehen sie auch, warum so ein kleiner Borkenkäfer große Fichtenbäume zum Sterben verurteilt. Und warum wir die Wälder so aufzuforsten versuchen, dass der Käfer weniger Lebensraum findet."
Rund 6 700 Schüler kamen 2006 mit den Mitarbeitern des Jugendwaldheims in Kontakt, bei Projekttagen, in der Waldschule und den Einsätzen im Wald. Ein Wermutstropfen für alle Interessenten an Jugendwaldheimaufenthalten gibt es jedoch. Bis zum Frühjahr 2008 ist das Haus ausgebucht. Jugendliche aus Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und traditionell aus Prag werden Haus und die Reviere mit Leben füllen. "Jede Schulwoche ist ausgebucht, und in den Ferien schauen wir nach Gästen, die andere Ferienzeiten haben. So haben sich erstmals Schüler aus Rathenow (Brandenburg) angesagt." Jedoch können sich Klassen aus welcher Schulform auch immer für Projekttage anmelden.
Jugendwaldheim "Lindenberg", 38889 Blankenburg, Am Lindenberg 4, 03944 / 3661825, E-Mail: [email protected]