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"Ich nenne es Kindergefängnis" von Ralf Marten "Ich nenne es Kindergefängnis" von Ralf Marten: Buch beleuchtet Spezialheime in der DDR

Von Uwe Kraus 22.12.2015, 19:03
Das Cover des Buches.
Das Cover des Buches. privat Lizenz

Quedlinburg - Es liest sich wie eine Zwischenbilanz, mit der Ralf Marten unter dem Titel „Ich nenne es Kindergefängnis …“ an die Öffentlichkeit tritt. Er widmet sich in der Studienreihe der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt den Spezialheimen und dem Einfluss der Staatssicherheit auf die Jugendhilfe der DDR.

48 Spezialheime in Sachsen-Anhalt

Bis 1989 befanden sich auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt 48 Spezialheime. Für den nicht mit der Materie befassten Leser fällt es sehr schwer, das System der Heime, Jugendhäuser und Jugendwerkhöfe differenziert zu durchdringen. Trotz der langen Literatur- und Quellenliste von Marten wirkt die authentische Materiallage erschreckend dürftig, obwohl sich gerade in der Diskussion der vergangenen drei Jahre zur Problematik des „Fonds Heimerziehung in der DDR“ zahlreiche Betroffene zu Wort meldeten.

Doch es schien weniger das Anliegen der Veröffentlichung zu sein, das Einzelschicksal aufzuzeigen als vielmehr das System Spezialkinderheime. Durch die miserable Quellenlage brechen Daten jäh ab, muss auf Zweit- und Drittquellen der DDR-Frühzeit zurückgegriffen werden.

Verdienstvoll ist der Versuch, über alle bekannten und zum Teil vermuteteten Einrichtungen, in denen „mit autoritären Methoden individuelles und sozial abweichendes Verhalten“, wie die sogenannte „Störung der öffentlichen Ordnung“, unterbunden werden sollte, eine Biografie zu geben. Erstaunlich scheint, dass selbst aus den unendlich wirkenden Kilometern der Überwachungsakten des Ministeriums für Staatssicherheit vergleichsweise wenig greifbare Daten in die neue Broschüre flossen.

Katastrophale Bedingungen

Trotzdem war das Mielke-Ministerium über die Situation in den Spezialheimen bestens informiert. Missstände wie Brutalität und fragwürdige Erziehungsmethoden der Erzieher wurden in ihren Berichten angemerkt. Historisch gesehen existierten in der Besatzungs- und frühen DDR-Zeit in Quedlinburg und Halberstadt „Durchgangsheime“ für aufgegriffene und kriminell gefährdete Kinder und Jugendliche. Gerade aus Halberstadt wird über katastrophale Bedingungen und viele „Entweichungen“ berichtet. Später entstanden mehrere Spezialkinderheime im Harz, die sich rund um Quedlinburg konzentrierten. In der Stadt, in Güntersberge und Neinstedt werden sie vom Autoren nachgewiesen. Auch dazu wirkt der Kenntnisstand sehr dünn. So wird in den Akten des Landeshauptarchivs 1952 vom Spezialheim in den „Nachterstedter Anstalten“ mit 58 „schwer erziehbaren Jungen“ berichtet. Im Harzjugendheim „Ernst Wölk“ Quedlinburg ist von 95 Kindern mit zehn Erziehern die Rede. Weit ausführlicher wird auf die Jugendhilfeeinrichtungen in der Stadt Wernigerode eingegangen. 1952 war das Privatheim der Frau Holland vorwiegend mit beim illegalen Grenzübertritt aufgegriffenen Kindern und Jugendlichen belegt. Wie lange das Heim existierte, darüber wird nur gemutmaßt. Die Wernigeröder „Waldmühle“ wird dagegen 1960 erstmals erwähnt. Über das Spezialkinderheim gibt es Statistiken bis in die 1980er Jahre.

Geschehnisse wurden nicht aufgearbeitet

Erstaunlich wirkt, dass über die „Durchgangsstation“ auf dem Halberstädter Domplatz 49 nach deren Auflösung 1955 nicht geschrieben wird. Gilt sie doch gerade in den sozialen Netzwerken als geschlossenes Jugendwohnheim für Problemmädchen, in dem es bis zur Auflösung nach 1989 diverse Maßregelungen gab und zu denen Zeitzeugnisse vorliegen. Auch die Spanne von 1950 als Landesjugendheim „für schwer erziehbare Mädchen und Jungen“ und 1984 als „Normalheim für Schüler der Polytechnischen Oberschule“ liegt in Güntersberge im Dunklen. Ralf Marten ergänzt seine Publikation mit Angaben zu Möglichkeiten der Unterstützung, Beratung und Rehabilitierung ehemaliger Heimkinder. Denn wirklich aufgearbeitet scheint auf diesem Gebiet fast nichts. Mit „Ich nenne es Kindergefängnis …“ entsteht erstmalig eine Topographie der Jugendwerkhöfe, Durchgangslager und Spezialheime in den früheren Bezirken Halle und Magdeburg.

Ralf Marten: Ich nenne es Kindergefängnis …, 224 Seiten, Mitteldeutscher Verlag, ISBN: 3954625504, 14,95 Euro (mz)