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Alkohol in Schwangerschaft Fetales Alkoholsyndrom: Eine 14-Jährige ist verhaltensgestört, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat

Von Susanne Thon 10.05.2018, 07:53
Alkohol während der Schwangerschaft kann den Fötus schon in geringen Mengen schädigen.
Alkohol während der Schwangerschaft kann den Fötus schon in geringen Mengen schädigen. Frank Gehrmann

Quedlinburg/Ballenstedt - Wenn ihr danach ist, pfeffert Nina das Telefon quer durch den Raum. Manchmal wirft sie mit Messern. Und hat sie ihren Rappel, gehen auch mal Scheiben zu Bruch. Es sei schon besser geworden, sagt Ninas Pflegemutter, die im Altkreis Quedlinburg zu Hause ist und unerkannt bleiben möchte.

Ihre Tochter bekomme jetzt Medikamente, erzählt sie. Die brächten ihre Aggressivität unter Kontrolle. Nina ist ein impulsives Kind. Und ein krankes Kind. Die 14-Jährige hat FAS. Das Kürzel steht für das Fetale Alkoholsyndrom, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann; eine Alkoholschädigung. Anders gesagt: Weil ihre leibliche Mutter in der Schwangerschaft getrunken hat, ist Nina (Name geändert) verhaltensgestört und wird in ihrer geistigen Entwicklung immer hinterher sein.

Lesen hat Nina gelernt. Schreiben? Unmöglich!

„Lesen hat sie gelernt“, sagt ihre Pflegemutter, aber Schreiben könne Nina nicht - das bekomme sie motorisch nicht hin. Und auch mit dem Geld ist das so eine Sache: „Sie kann gerade Euro- von Centmünzen unterscheiden.“

Generell tut sie sich schwer zu differenzieren, etwa zwischen Fremden und Freunden. „Einmal ist sie weggelaufen, da habe ich sie bei anderen Leuten aus der Stube geholt.“ Nina zu sagen, dass sie bestimmte Dinge einfach nicht tun dürfe, nutze nicht viel: „Sie vergisst das.“

Erhebliche Intelligenzminderung

Es sind die typischen Erscheinungsbilder dieser Krankheit, von denen Ninas Pflegemutter spricht. „Das FAS kann in der geistigen Entwicklung zu einer erheblichen Intelligenzminderung oder Entwicklungsverzögerung führen“, sagt Henning Böhme, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Harzklinikum „Dorothea Christiane Erxleben“.

Und: Die Betroffenen würden mit den negativen Auswirkungen des Alkoholkonsums ihrer Mutter zeitlebens zu tun haben, erklärt der Mediziner. Möglich seien auch Defizite in Sprache, Feinmotorik und räumlich-visueller Wahrnehmung; ebenso könnten die Lern- und Merkfähigkeit, die Rechenfertigkeit und Aufmerksamkeit beeinträchtigt sein.

Fehlbildungen und geringe Körpergröße

Dazu kämen mitunter massive Verhaltensauffälligkeiten, so Böhme. Das FAS geht ihm zufolge auch mit Fehlbildungen einher: An der Körpergröße, einem zu kleinen Kopf oder bestimmten Merkmalen im Gesicht lässt es sich erkennen.

Auch Nina hat körperliche Missbildungen. Dass sie anders ist als andere Kinder, habe sie im Grundschulalter mitbekommen, sagt ihre Pflegemutter. Sie sprach daraufhin mit ihrer Tochter, erklärte ihr, dass ihre echte Mama etwas gemacht habe, was man nicht machen sollte. „Man muss da mit offenen Karten spielen - gegenüber dem Kind und seinem Umfeld“, rät Sabina Kalberer Schweizer, die Vorsitzende des Pflegeelternvereins Quedlinburg. Sie hat eine Pflegetochter, bei der das Fetale Alkoholsyndrom sehr früh diagnostiziert worden ist. Das Mädchen kam in die Familie, als es acht Monate alt war.

Idee für Gründung einer Selbsthilfegruppe für Pflegeeltern von FAS-Kindern

Aus dieser Situation heraus ist die Idee entstanden, eine Selbsthilfegruppe für Pflegeeltern von FAS-Kindern zu gründen. Ein erstes Treffen fand im Café „Wirbelwind“ statt, weitere sollen folgen. „Wir wollen erst mal sondieren, wie groß das Interesse ist“, sagt Kalberer Schweizer, die mit ihrer Familie vor 18 Jahren aus der Schweiz in den Harz kam und in Ballenstedt lebt.

Früher arbeitete die heute 57-Jährige als Krankenschwester. Vom FAS habe sie aber keine Ahnung gehabt, als sie erfahren habe, dass ein Kind mit dieser Schädigung bald zu ihrer Familie gehören werde. „Ich wusste, dass man nicht trinken soll, wenn man schwanger ist.“ Was es im Einzelnen bedeuten könne, wenn es eine werdende Mutter doch tue, „das war mir absolut nicht klar“, räumt Kalberer Schweizer ein, die vier leibliche - inzwischen erwachsene - Kinder hat.

Herausforderung für Familie

Über Monate bereiteten sie und ihr inzwischen verstorbener Mann die Geschwister auf die neue Situation vor, dass sie ein Pflegekind aufnehmen wollten, dass es sein könne, dass das eine schwere geistige Behinderung habe, dass es eine Herausforderung für die ganze Familie werde.

Ihr war es wichtig, die Kinder - damals zwischen 6 und 14 Jahren alt - mitzunehmen, immer wieder das Gespräch mit ihnen zu suchen, sie darin zu bestärken, zu sagen, wenn ihnen etwas nicht passe, „damit sie nicht unter die Räder geraten“.

Entscheidung für ein FAS-Kind „hat unser Leben umgekrempelt“

Und das war gut so: Denn die Entscheidung für ein FAS-Kind „hat unser ganzes Leben umgekrempelt“. Familienausflüge seien nicht mehr drin - und Urlaube nur noch am selben Ort, in immer derselben Unterkunft möglich gewesen. Auf Veränderungen reagiere ihre Pflegetochter überaus empfindlich.

Auch mit dem Alleinsein habe sie Probleme, sagt Kalberer Schweizer. Das führte dazu, dass sie über Jahre auch die Integrationshelferin ihrer Tochter war, sie also durch den Schulalltag begleitete. Inzwischen muss sie das nicht mehr.

Es ist einer von vielen kleinen Fortschritten, die die Pflegemutter immer wieder darin bestärken, das Richtige getan zu haben. Auch, dass ihre Pflegetochter inzwischen ganz allein zur Patentante geht, die fünf Fußminuten weg wohnt, erfüllt sie mit Stolz. „Man strebt die Verselbstständigung an, wie auch immer die aussieht“, sagt Kalberer Schweizer. Sie weiß aber auch, dass drei Viertel aller FAS-Kinder immer auf einen Betreuer angewiesen sein werden.

2 von 1.000 Neugeborenen betroffen

Man gehe davon aus, dass in Deutschland 2 von 1.000 Neugeborenen betroffen seien, sagt Chefarzt Böhme. Die tatsächliche Zahl dürfte aber weitaus höher sein. Nach Angaben des Landkreises Harz sind beim Pflegekinderdienst 17 Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit der Diagnose FAS registriert.

Was nicht heißt, dass es nicht noch mehr gibt: „Es leben auch Pflegekinder in Familien, bei denen die Diagnose nicht abgeschlossen ist, der Verdacht jedoch besteht“, sagt der Sprecher der Kreisverwaltung, Manuel Slawig.

Alkohol wirke beim Ungeborenen zehnmal so lange wie bei einem Erwachsenen

Die Mütter wüssten nicht, was sie ihren Kindern antäten, sagt Kalberer Schweizer. Der Alkohol wirke beim Ungeborenen zehnmal so lange wie bei einem Erwachsenen. Kleine Mengen könnten ausreichen, um es nachhaltig zu schädigen. Bei der leiblichen Mutter ihrer Tochter waren es keine kleinen Mengen. Sie war - und ist - Alkoholikerin.

Kraft geben der Pflegemutter die vielen schönen Momente, die sie mit ihrer Pflegetochter erleben darf. „Sie ist ein sehr fröhlicher Mensch - und hat so viele Ideen“, erzählt sie. Eine bringt sie bis heute zum Lachen: Eines Nachts stand ihre Tochter auf, ging in Papas Weinkeller. Sie hat ihre eigene Vorstellung von Ordnung.

Ihr gefielen die Lücken zwischen den Flaschen in den Regalen nicht, die entstanden waren, weil ihr Vater den Wein nach Jahrgang und geografischer Herkunft sortiert hatte. Also räumte sie um. Am nächsten Morgen waren die Lücken weg, ein Regal voll, und das andere lag abgebaut daneben.

(mz)