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Demo von Behinderten Demonstration in Quedlinburg: Behinderte fordern Barrierefreiheit und Gleichstellung

Von Benjamin Richter 08.05.2019, 15:26
Mit zahlreichen Transparenten und Trillerpfeifen an den Lippen gehen – und rollen – rund 300 Demonstranten durch Quedlinburg.
Mit zahlreichen Transparenten und Trillerpfeifen an den Lippen gehen – und rollen – rund 300 Demonstranten durch Quedlinburg. Jürgen Meusel

Quedlinburg - Die Straße Mummental hat Astrid Staudenraus im Elektromobil noch gut überqueren können. In der Pölle stößt die Leiterin des Azurit-Seniorenzentrums jedoch an Grenzen und muss einen langen Umweg in Kauf nehmen, um über abgeflachte Bordsteine auf das Straßenpflaster zu gelangen.

„Ich möchte mal ausprobieren, wie das für die Leute ist, die auf ein Elektromobil angewiesen sind“, erklärt Staudenraus, als sie sich wieder dem Protestzug anschließt. Die Demonstranten haben ihren Schlenker aufmerksam beobachtet. Rund 300 Menschen setzten am Dienstag in der Quedlinburger Innenstadt ein Zeichen für mehr Barrierefreiheit.

Anlass der Demo: Der Aktionstag für Barrierefreiheit und zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung

Unschwer war er zu hören, der europaweite Aktionstag für Barrierefreiheit und zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung: Mit Trillerpfeifen suchten die Demonstranten die Aufmerksamkeit der Passanten. 

Über deren Lärm setzte sich Eike Helmholz, Pressesprecher der Lebenshilfe Harzkreis-Quedlinburg, dann und wann mit einem Megafon hinweg - nämlich immer dann, wenn es eine Rose zu überreichen galt. 

Rund 20 der orangefarbenen Blumen fuhr Astrid Staudenraus in ihrem Elektromobil mit sich herum. An die dm-Filiale in der Steinbrücke überreichte sie eine, ebenso an die Parfümerie Flair und die Buchhandlung Gebecke in der Pölkenstraße. „Diese Geschäfte haben darauf geachtet, dass ihre Eingänge barrierefrei sind“, legte Helmholz dar. Dabei haben sie sich von der Arbeitsgemeinschaft „Design für Alle“ beraten lassen.

Blumen für Geschäfte, die Behinderten den Zugang ermöglichen

„Es ist normal, verschieden zu sein“, ist auf einem der Transparente zu lesen, die die Teilnehmer durch die Stadt tragen, auf einem anderen: „Wer nicht sprechen kann, hat trotzdem was zu sagen.“

Nachdem die letzte Rose an die Adler- und Ratsapotheke am Kornmarkt verteilt ist - sie hat mit einem großen Umbau eine Rampe für Rollstuhlfahrer geschaffen -, versammeln sich die Demonstranten auf dem Markt. „So etwas wie heute habe ich noch nicht erlebt“, stellt Staatssekretärin Beate Bröcker (SPD) aus dem Landesministerium für Arbeit, Soziales und Integration staunend klar.

Sie ist der Einladung der Veranstalter gefolgt und spricht von den Rathaustreppen aus zu den Umstehenden. „Ich finde es wunderbar, dass Sie heute hier lautstark für Barrierefreiheit demonstrieren. Das sollte aber nicht nur an einem Tag im Jahr so sein, sondern durchgehend.“ Die bereits barrierefrei gestalteten Eingänge und Bordsteine seien Ergebnisse einer Debatte, „die geführt werden muss“.

Teilnehmer spannen ein Netz über dem Markplatz aus

Was nun folgt, ist ein Lehrstück im Sichtbarmachen des sonst nur Fühlbaren: Die Helfer und Ordner gehen zwischen den Demonstranten auf und ab und geben ihnen einen Zipfel eines langen Stoffstreifens in die Hand - auch so mancher vorübergehende Passant packt gern mit an.

Schnell sieht der nördliche Teil des Markts aus wie ein Spinnennetz, in dem jeder mit jedem über ein paar Ecken vernetzt ist. „Das ist ein Zeichen dafür, dass wir uns in der Gesellschaft verbinden wollen“, erläutert Eike Helmholz.

Es ist nicht der erste symbolische Akt an diesem Vormittag des Protests: Bereits vor dem gemeinsamen Rundgang hatten Landrat Martin Skiebe (CDU), Quedlinburgs stellvertretender Bürgermeister Wolfgang Scheller und Marvin Müller eine Wand aus Pappkartons eingerissen - mithin fiel eine weitere Barriere.

Müller ist an diesem Tag als Ordner für die Lebenshilfe Harzkreis-Quedlinburg im Einsatz. Auch das Logo der Evangelischen Stiftung Neinstedt ist auf vielen der bunten Ballons zu sehen, die die Teilnehmer an ihren Jacken und Rucksäcken tragen.

Probleme im Alltag: Ampeln schalten zu schnell, nicht alle Wahllokale sind behindertengerecht

Doch das Interesse am von der Aktion Mensch initiierten Demonstrationstag reicht weit über die Grenzen des Altkreises Quedlinburg hinaus: So berichtet Juliane Lieb, Gruppenleiterin in der Diakonie-Werkstatt für sinnesbehinderte Menschen in Halberstadt, dass ihre Mitarbeiter häufig auf Barrieren träfen.

„Das fängt damit an, dass Ampeln nicht auf Behinderte ausgerichtet sind und zu schnell schalten“, erklärt sie. Auch in Halberstadt sehe die Situation teilweise noch sehr schlecht aus, pflichtet ihr Mitarbeiter Marco Erdmann bei. „Da ist noch ganz schön Luft nach oben.“

Im Herbst will das Werkstatt-Team wieder mitprotestieren, dann in Halberstadt. Davor ist auch die Europa- und Kommunalwahl Ende Mai ein Thema unter ihnen – wieder befürchten sie Barrieren. „Nicht jedes Wahllokal ist behindertengerecht“, schildert Juliane Lieb. Im Zweifel bliebe die Briefwahl. Dennoch: „Da gibt es noch einiges zu tun.“ (mz)