Interview mit Dompfarrer Michael Bartsch zu Corona Von der Würde genommen
Seit Monaten ist es ruhig in den Kirchen. Zu Ostern öffneten sie die Pforten. Wie sich die Situation auf das Leben in der Gemeinde auswirkt.
Naumburg - Im Bemühen, die Verbreitung des Corona-Virus auszubremsen, droht das Miteinander auf der Strecke zu bleiben. Lokale, Sportstätten, Musikschulen, Kinos, Theater, Konzertsäle, Galerien, Museen und immer wieder auch Schulen sind seit November vergangenen Jahres erneut geschlossen. Wie erleben die verschiedenen Einrichtungen - kulturelle, sportliche, museale oder kirchliche - diese außergewöhnliche Zeit? Welchen Herausforderungen sehen sie sich gegenüber? Was treibt deren Mitstreiter um? Diesen und weiteren Fragen möchte Naumburger Tageblatt/MZ in loser Folge entsprechend der Gesprächsbereitschaft nachgehen. Mit Naumburgs Domprediger, Pfarrer Michael Bartsch, sprach Redakteurin Jana Kainz.
Herr Bartsch, auch Kirchen waren lange Zeit geschlossen, öffneten teils zögerlich wieder ihre Pforten. Wie hat sich das Leben in der Kirchengemeinde verändert?
Michael Bartsch: Auch kirchlich ist viel weggebrochen. Es gibt zum Beispiel keinen Konfirmandenunterricht in Präsenz, keinen Seniorenkreis mehr und kaum noch Besuche. Die Einsamkeit nimmt zu. Wir Pfarrer sind gewohnt, im direkten Kontakt mit Menschen zu arbeiten, Menschen, die uns anvertraut sind, doch das ist unter den Corona-Bedingungen nur eingeschränkt möglich. Und das macht mich betroffen. In den Kirchengemeinden ist während der Gottesdienste, die stattfinden durften, die Angst vor Ansteckungen sehr groß, obwohl wir Abstand halten, die Personaldaten erfassen, Desinfektionsmittel für die Hände bereitstellen, den Gesang aussparen. So tat es sehr gut, dass wir zu Ostern die Kirchen öffnen durften und zum Beispiel im Dom eine wunderbare Osternacht feiern konnten.
In dem es um die Auferstehung, um Hoffnung ging?
Ja, darum geht es zu Ostern, aber nicht allein. In der Bibel gibt es die Geschichte, dass Frauen zum Grab Jesu kommen und dann erschrecken über das unerwartete neue Leben, welches sich Bahn bricht. Es geht um die Lebensexplosion. Wir Theologen sind geübt, das Leben von den Rändern her zu deuten. Es beginnt mit der Taufe zur Geburt und endet mit der kirchlichen Beerdigung. Mich beschäftigt sehr, wie sich das Leben während der Pandemie an den Rändern verändert hat.
Was haben Sie beobachtet?
Im ersten Lockdown sind Menschen in Alten- und Pflegeheimen ohne Begleitung gestorben. In Kliniken sind Menschen einsam gestorben, weil die Familienangehörigen nicht bei ihnen sein durften. Das ist grausam. Auch ein ehemaliger Kollege musste einsam sterben. Das berührt mich alles sehr. Kleine Kinder konnten nicht mehr ihr Leben leben, nicht mehr gemeinsam spielen, durften sich nicht mit Freunden treffen und dann wurde ihnen noch gesagt: „Wenn du nicht aufpasst, kann Oma sterben.“ Jugendliche und Studenten fallen in Depressionen. Ich habe mit Landtagspolitikern gesprochen, die berichten, dass die Suizidrate gestiegen ist. Viele Menschen sind mit einer Herz- oder Krebserkrankung nicht zum Arzt gegangen. Das kann nicht die Lösung sein. Am Telefon, ich führe viele Telefonate, weinen Menschen, weil sie keinen Impftermin bekommen haben. Trotz aller Anstrengungen haben wir es nicht geschafft, die Risikogruppen zu schützen. Nur noch die Sicht auf den Leib scheint jetzt eine Rolle zu spielen, alles wird auf diesen Aspekt reduziert.
Und das ist problematisch, weil ...?
... der Mensch nicht nur aus dem Leib besteht. In der Theologie gehört alles zusammen: Geist, Seele, Leib. Davon darf man nichts vernachlässigen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, braucht die Hand, ein Lächeln, einen zugewandten Blick und auch das Weinen miteinander, eine tröstende Umarmung. Das funktioniert über Laptop nicht.
Wie geht es Ihnen persönlich in dieser Corona-Situation?
Es gibt Phasen, da frisst das alles auch an mir. Und dann gibt es, Gott sei Dank, die Zeit, in denen ich geben, Kraft und neue Ideen entwickeln kann. Für die Passionsandachten hatte ich mir vorgenommen, nicht über Corona zu predigen. In einer Andacht tat ich es dann doch, um die Wirkung der Angst zu thematisieren. Sie ist das Gegenteil der frohen lebensstiftenden Botschaft, die wir weitertragen sollen „in alle Welt“.
Warum stellten Sie die Angst in den Mittelpunkt?
Was ich in dieser Pandemie sehe und höre - ob medial oder in der Realität - alles scheint mit Angst behaftet. Es wird mit Angst agiert. Das bringt uns aber nicht weiter, sondern „frisst auf“. Das angstgeleitete Handeln nimmt zu, es wird uns aber nicht zum Licht führen, uns keine Perspektive geben. Die Polarisierung der Gesellschaft nimmt zu, andere Meinungen werden missachtet. Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß. Die Farben des Lebens sind weg. Wir gehen aufeinander los. Das darf nicht sein. Gerade in Ausnahmesituationen muss es darum gehen, Brücken zu bauen. Wenn in der Bibel Gott zu den Menschen spricht, wie zum Beispiel an Ostern oder zu Weihnachten, ist immer ein Engel dabei. Dessen erster Satz lautet: „Fürchtet euch nicht.“ Und eine Mutter sagt zu ihrem Kind: „Du musst keine Angst haben.“ Das sind Botschaften, die uns guttun und den richtigen Weg weisen. Wenn wir Leben aber auf Angst aufbauen, zerstören wir die Gesellschaft und die Gemeinschaft. Die Risse gehen bereits durch Familien.
Mit einem „Hab’ keine Angst“ ist es derzeit aber nicht getan. Oder?
Nein. Natürlich nicht. Aber diese Botschaft ist wichtig, um Zuversicht zu verbreiten, und sie gewinnt gerade an Bedeutung. Wessen Geistes Kind sind wir also? Was es darüber hinaus braucht, ist ein differenzierter Blick auf das Geschehen, einen kritischen Diskurs, gemeinsames Handeln und den Respekt anderen Meinungen und Andersdenkenden gegenüber, die ehrliche Einsicht, dass wir mit dem Virus leben müssen. Stattdessen haben wir uns zurück ins Mittelalter bewegt und verstecken uns. Während der Pest beispielsweise stellten sich die Menschen die Frage: „Lieber Gott, was haben wir falsch gemacht?“ Diese Fragen stellen wir gar nicht mehr.
Will uns die Pandemie also etwas sagen?
Sozusagen ja.
Und das wäre was?
Das Virus zeigt in erster Linie die Verwundbarkeit unserer globalisierten Welt und dass es so, wie wir leben, nicht weitergeht. Das Virus, das schon 2003 über Hongkong zu uns gekommen ist, verändert nun unser entgrenztes Leben, in dem uns bis vor Kurzem die ganze Welt offen stand. Die Pandemie zeigt uns auch, was in diesem Land nicht funktioniert, dass wir alles zu oft nur übers Geld definieren: renditeorientierte Pflege, Gesundheitswesen, Bildung seien hier genannt. Wir haben die Chance, etwas zu verändern. Doch statt diese zu ergreifen, kommen wir an unsere Grenzen, wollen Geimpften die Welt öffnen. Das führt zu einer neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft. Wir müssen die soziale Kultur zurückerobern, die uns als Menschen ausmacht.
Dazu würde was gehören?
Im Endeffekt unsere Grundrechte. Die sind nicht verfügbar. Man kann sie eigentlich nur freiwillig zeitweise abgeben, nicht nehmen. Wenn ich den Menschen diese aber nehme - was passiert ist -, nehme ich ihnen etwas, was ich nicht darf. Und ich nehme ihnen einen Teil ihrer Würde. Man kann die Menschen nur bitten, auf etwas zu verzichten, sich vorübergehend einzuschränken - aus Vernunftsgründen. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Ich frage mich besorgt, warum wir hier keine öffentliche lebendige Debatte führen.
Bekämen wir die Grundrechte zurück, wäre das schon bedeutend viel. Was braucht es außerdem?
Dass wir den Sinn des Lebens wieder erkennen.
Der da wäre?
Er ergibt sich aus den sozialen Beziehungen. Wir wollen lieben und geliebt werden. Wir leben oft so, als ob wir es nicht wissen. Die Welt, wir selbst sind so materialisiert. Wir leben in großen Häusern und werden immer einsamer, wir fahren immer schnellere Autos und haben dennoch weniger Zeit, wir haben wohl auch immer mehr Geld und fühlen uns dennoch immer ärmer. Wir reisen zu weiten Zielen und kommen doch nicht an. Wir Menschen denken nur in unserer zeitlichen Lebensperspektive - von unserem ersten bis zum letzten Lebenstag. Es gibt gegenüber der Zeit aber noch die Ewigkeit. Wir packen, von Ehrgeiz getrieben, alles in diese Lebenszeit und können unser Glück dennoch nicht zwingen. Da gibt es aber auch die philosophische Seite - den Blick von außen auf uns, was macht uns als Mensch aus, was ist mein Auftrag für diese Welt? Wenn wir schwer erkranken oder uns eine andere persönliche Katastrophe ereilt, besinnen wir uns rasch auf das Wesentliche und erkennen, was wirklich zählt. Während den Beerdigungen predige ich jetzt über unsere Erfahrungen, dass das Leben mehr ist als zu atmen, und dass der Tod mitten im Leben beginnen kann. Die Menschen begreifen das gerade. Das ist ein Gewinn.
Was sollte sich jetzt rasch in der Kirche tun?
Jesus hat Leprakranke umarmt. Kranke berühren, umarmen - wir sind die Kirche, das ist unsere Aufgabe, der wir gerecht werden müssen. Ja, und wir sollen beten, um dann das Richtige tun zu können. Es gibt viele Kollegen, die nach neuen Wegen suchen, Menschen zu erreichen, zu trösten. Aber es ist auch an der Zeit, dass wir uns zur gesellschaftlichen Situation deutlich äußern, zum neuen Miteinander aufrufen und immer wieder Brücken bauen.