Neue Stolpersteine in Naumburger Engelgasse erinnern an Familie „Es geht nicht um Schuld“
Kunstprojekt von Gunter Demnig mahnt an das Schicksal ermordeter, deportierter und verfolgter jüdischer Menschen während der Nazizeit. Kaufmann Julius Bechtold musste 1944 als 62-Jähriger ins Arbeitslager.

Naumburg - In der Engelgasse, wo seit Dienstagnachmittag drei „Stolpersteine“ mahnen und gedenken, verkaufte die Naumburger Familie Bechtold einst Feinkost. Mit 62 Jahren arbeitete Julius Bechtold 1944 noch immer hart, womöglich dachte er aber schon mit Vorfreude an seinen Lebensabend. Doch dann erhielt er, als Halbjude, was eigentlich ein Todesurteil bedeutet: die Einweisung ins Zwangsarbeitslager Sitzendorf/Unterweißbach im Thüringer Wald. „Dass die Nationalsozialisten dies als Verpflichtungsbescheid bezeichneten, zeigt ihre ganze Menschenverachtung und Feigheit“, sagte am Dienstag Naumburgs Oberbürgermeister Armin Müller bei der Einweihung der „Stolpersteine“. In mehr als 1.200 Gemeinden in Deutschland und mittlerweile in vielen anderen Ländern hat der Künstler Gunter Demnig seit 1992 die quadratischen Messingtafeln in Fußwege eingearbeitet. In Naumburg erinnern sie auch in der Herren-, der Salz-, der Park-, der Rasch-, der Kösener Straße und am Spechsart an das Schicksal ermordeter, deportierter und verfolgter jüdischer Menschen während der Nazizeit.
Mit dem Ansinnen, auch für Julius Bechtold, seine Frau Elsa und Tochter Ilse „Stolpersteine“ pflastern zu lassen, waren die Urenkel auf die Stadt Naumburg zugekommen. Nun gaben sie am Dienstag - mit ihren Familien zahlreich erschienen - zusammen mit interessierten Naumburgern, darunter Vertreter des Bürgervereins, der Einweihung einen würdigen Rahmen. Über seinen Urgroßvater Julius erzählte Daniel Wiesner, dass dieser nach dem Ersten Weltkrieg seiner Elsa wegen aus der Berliner Ecke an die Saale kam. Er als Halbjude und sie als Vierteljüdin hatten zunächst noch weniger schwere Repressalien zu erleiden, ehe im Jahr 1944 auch für Julius die „Endlösung“ vorgesehen war.

In der „Organisation Todt“ habe er in Sitzendorf Zwangsarbeit verrichten müssen. Und was die Kombination aus harter Arbeit, schlechter Verpflegung und mangelnder medizinischer Versorgung für einen 62-Jährigen wohl alsbald bedeutet hätte, kann man sich vorstellen. Doch Bechtold, so erzählte Urenkel Daniel Wiesner, hatte Glück und den Zufall auf seiner Seite. Ein ehemaliger Lehrling des Naumburger Kaufmanns arbeitete als Aufseher in dem Lager, zeigte enorme Zivilcourage, wies ihm weniger schwere Aufgaben zu und beschaffte zusätzliche Nahrungsmittel, die der Uropa geteilt habe. In der Familie ist der Wohltäter als „Herr Wichmann“ bekannt, über seinen späteren Verbleib weiß man nichts. Der Urgroßvater soll nach der Nazi-Diktatur zu Wichmanns Gunsten ausgesagt haben, erzählt man sich im Familienkreis. Julius Bechtold überlebte und konnte nach dem Krieg weiter in der Engelgasse mit seiner Frau Lebensmittel verkaufen. Tochter Ilse lebte bis vor wenigen Jahren, als sie hochbetagt verstarb, an Ort und Stelle.
„Es geht nicht um Schuld, sondern um die Verantwortung, wachsam zu sein.
Urenkel Daniel Wiesner
Am Dienstagnachmittag zeigte sich Daniel Wiesner dankbar gegenüber der Stadt Naumburg und dem hessischen „Stolperstein“-Initiator Gunter Demnig. „Es geht nicht um Schuld, sondern um die Verantwortung, wachsam zu sein“, sagte er. OB Müller stimmte ihm zu. Er habe gerade erst mit Polizei und Staatsanwaltschaft über rechtsradikale Umtriebe in der Region gesprochen. „Diese Tendenzen gilt es im Keim zu ersticken.“ Die „Stolpersteine“ seien bestens geeignet, „Gesicht zu zeigen“. Zugleich bedankte sich Müller bei der Freien Schule im Burgenland „Jan Hus“, da deren Schüler in den Tagen rund um das Pogromgedenken stets die Messingtafeln in Naumburg säubern.
Dass Schülern das Thema „zu den Ohren raushängt“, davor hätten ihn Lehrer einst gewarnt, erzählte Künstler Demnig. „Doch das Gegenteil ist der Fall.“ Immer wieder treffe er auf Jugendliche, die nicht durch Zahlen und Fakten in Büchern, sondern erst durch die konkreten Schicksale in ihrer Stadt sensibilisiert werden. Dass Demnig die Arbeit ausgeht, ist nicht zu befürchten. Gerade erst setzte er die ersten „Stolpersteine“ in Serbien. In Amsterdam gebe es derzeit sogar eine Wartezeit von vier Jahren.
