Chronik Chronik: Slawische Gründung

Wetten, dass am ersten Sonnabend im November in vielen Haushalten des Dorfes eine Karpfenmahlzeit auf den Tisch kam. Gereicht hätte es für alle 76 Einwohner, was da an Schuppentieren aus dem Dorfteich gezogen wurde. Prächtige Burschen waren darunter, 2,5 Kilo die schlachtreifen Exemplare, die Günter Roloff im Kescher hatte. Mampfi wurde diesmal nicht gesichtet. Die Gelbwangen-Schildkröte hat den Dorfteich als Domizil gewählt, nachdem sie dreimal ihrem ursprünglichen Besitzer entwichen war. Nun ist sie so etwas wie die Nessie von Seidewitz.
Wie auch immer - das Abfischen des Teichs ist ein Volksfest für die Dorfbewohner. Da wird nicht nur Karpfen verkauft, auch frisch-geräucherte Forellen sind im Angebot, und echte Thüringer Rostbratwürste werden gebraten. Dazu gibt’s Bier und andere Getränke. Auf dem Dorfplatz braucht da niemand herumzusitzen. Seidewitz hat ein schmuckes Gemeinschaftshaus mit Terrasse, Schankstube, Vereinszimmer und Saal, einer Küche und pikobello Sanitäranlagen. Das schmucke, leuchtend gelbe Gebäude entstand aus einer Lagerbaracke der ehemaligen LPG und wurde vom Heimatverein 2003 von Grund auf aufgebaut. Hier finden familiäre und vereinsinterne Feiern statt, schlägt aber auch des gesellschaftliche Herz des kleinen Dorfes. Das hält der Heimatverein kräftig im Rhythmus. Höhepunkte im Festkalender sind Maienbaumsetzen und Osterfeuer, Himmelfahrts-Spektakel.
Und wo, bitteschön gibt es das noch: Pünktlich zum 8. März rüsten die Männer für die Frauen ein opulentes Vier-Gänge-Menü aus, in dessen Mittelpunkt in diesem Jahr ein mit Backpflaumen gefülltes Sesamschnitzel mit Kartoffelsoufflés und Tomaten-Gurken-Salat stand. Torsten Richter, Tom Zeretzke und Ulrich Zink bekochten dazu immerhin 40 Frauen - und viel mehr wohnen auch nicht im Dorf.
Von den Nordländern abgeguckt haben die Seidewitzer das Christbaumweitwerfen und es dabei zu (oder fast) Weltmeisterehren gebracht. 9,72 Meter weit schleuderte Andreas Schulz das Gerät, und bei den Frauen brachte es Conny Richter auf beachtliche 9,30 Meter. Die Seidewitzerin ist auch Siegerin eines weiteren putzigen Wettbewerbs des „Seidevision Costume Contest“ zur Wahl des originellsten Faschingskostüms als so eine Art Rattenfängerin von Seidewitz. Dass man in einem kleinen Dorf doch allerhand auf die Beine stellen kann, darüber sind die 30 Vereinsmitglieder stolz. Heimatvereinsvorsitzender Ulrich Zink verweist aber auch darauf, dass „wir auch ein Verschönerungsverein sind“. Immerhin wurden zur Verbesserung des Dorfbildes in diesem Jahr 400 Stunden geleistet, was sich an der gepflegten Ortslage mit großen Fachwerkhäusern unschwer erkennen lässt. Immerhin hat das an der Grenze zu Thüringen gelegene Dorf seit diesem Jahr Anschluss an die große weite Welt bekommen. Zumindest an die der Radfahrer. Der auf zwei Meter Breite ausgebaute Radwanderweg auf der ehemaligen Bahnstrecke Zeitz-Camburg hat in diesem Herbst Seidewitz erreicht. Und dem Ort zudem noch einen Röhrentunnel beschert, der nun in Nachbarschaft mit dem unterirdischen Kellersystem konkurriert, das Hinterlassenschaft einer einstigen Brauerei ist.
Seidewitz war einst ein reines Bauerndorf. Eckhard Beckers Vorfahren sind hier seit 1520 ansässig. Der heute 78-Jährige, dem der Kollektivierungswahn und die Schikanen der Ulbricht-Ära in der DDR mit seiner Familie keinen Platz mehr ließ, konnte erst nach der politischen Wende in sein Dorf zurückkehren und baute - auch mit Hilfe seiner Söhne - das Familiengrundstück wieder auf. Er hat sich tatkräftig für das Dorf engagiert, gehört zu den maßgeblichen Spendern und Akteuren, die dafür sorgen, dass die alte Kirchenglocke wieder im Dorf erklingen kann. Seit 1998 hängt das Geläut in einem Glockenstuhl, der sich an jener Stelle befindet an der bis 1976 die Kirche stand.
Landwirtschaft wird heute nur noch von einem Bauern betrieben: Ulrich Zink, der mit seinem Vater Richard 1991 aus Baden-Württemberg durch Vermittlung der Beckers hierher kam. Der Diplom-Agraringenieur baut auf knapp 400 Hektar Fläche Winterweizen, Raps, Zuckerrüben, Erbsen, Sojabohnen und Dinkel an. Besonderheit bei Zink: Er betreibt Ackerbau ohne Pflug. Will heißen, die Saat erfolgt ohne Bodenbearbeitung direkt nach erfolgter Ernte oder Zwischenkultur, deren Rückstände als Mulch auf dem Acker verbleiben. Der Boden erfährt bei der Aussaat lediglich in den Saatreihen eine schonende mechanische Bearbeitung. Die Regenwürmer danken es Zink durch fleißige Mithilfe.
Schauen wir noch bei Konrad Mehlhorn vorbei. Der gebürtige Casekirchener hat als zünftiger Wandergeselle im Zimmererhandwerk auf seiner Walz ganz Amerika von Nord bis Süd durchquert, war in vielen Ländern Europas und hat in Namibia beim Aufbau von Farmen geholfen. Inzwischen Meister, ist der heute 35-Jährige vor zehn Jahren in Seidewitz sesshaft geworden und gehört als Einzelunternehmer zu einer Arbeitsgemeinschaft von Zimmerern, die auf Blockhausbau und Sanierung von Holzbauten spezialisiert sind. Außerdem baut er in Cauerwitz die alte Gastwirtschaft wieder auf und veranstaltet unter dem Logo „Blaue Blume“ Sommerveranstaltungen.
Ach so, noch etwas zu Mampfi, der Wasserschildkröte. Die hat in Seidewitz noch Artverwandte. Torsten Richter (48) hält auf seinem Grundstück griechische Landschildkröten, drei Männchen und ein Weibchen. Größere Tiere schnitzt Richter als Hobby-Kettensäger aus Baumstämmen. Sie schmücken das Gehöft des Gartenlandschaftsbauers und sind auch andernorts im Dorf zu finden. Übrigens, wer noch mehr über das Dorf wissen will - dank Tom Zeretzke verfügt der Heimat- und Verschönerungsverein über eine übersichtliche und aktuelle Seite im Web. Reinschauen lohnt sich.
