Merseburg Merseburg: Heiliges Alphabet
Merseburg/MZ. - Als der Autor Vahse Arsen zur Kreide greift, blicken die Schüler des Englischkurses am Merseburger Herder-Gymnasium gebannt zur Tafel. Langsam zieht der armenische Poet die Kreide über den grünen Untergrund und malt eine kleine Auswahl der 39 Buchstaben des armenischen Alphabets an die Wand. Jeder Buchstabe basiert dabei auf einem Kreuz, erklärt Arsen.
"Man sieht, das Alphabet ist bei den Armeniern heilig", kommentiert Autorenkollege und diesjährige Walter-Bauer-Preisträger André Schinkel, der am Dienstag im Rahmen der "InterLese" für eine Lesung in der Schule zu Gast war. Dabei stellten die beiden Schriftsteller ihre Bücher, aber auch den zweisprachigen Band "Als die eisigen Tage endlich vorüber waren" vor.
Das Werk soll den Armeniern Dichtung aus Sachsen-Anhalt näherbringen. "Eine 100-prozentige Übertragung von Sprache wird es aber nicht geben", erklärt Schinkel den Schülern. Dies gelte vor allem für Übersetzungen aus dem Armenischen ins Deutsche oder Englische. "Denn der Zugriff ist ein ganz anderer: im Armenischen wird mehr mit Bildern gearbeitet, vor allem mit christlichen Metaphern", meint Schinkel, womit wir wieder bei dem religiös aufgeladenen Alphabet wären.
Bei dem 90-minütigen Gastspiel lesen die Autoren in ihren Muttersprachen sowie Englisch und beantworten die zahlreichen Fragen der Schüler. Am Rande des Gedichtes Insomnia ist zu erfahren, dass Arsen eigentlich gut schläft und darin vielmehr die Probleme der Freundin beschreibt. Auf die Frage nach seinen Leitideen holt der Armenier eines seiner Bücher hervor und tippt auf den selbstgestalteten Einband. Ein Roboter in einer düsteren und toten Welt ist zu sehen, der versucht, den letzten Baum zu retten. "Er braucht ihn nicht zum Leben, denn als Maschine muss er nicht atmen. Aber er kann den Wert eines Baumes erkennen", erklärt Arsen. "Es geht oft um die seelische Leere, die wir jeden Tag und überall beobachten können."
Gedichte können laut ihm keine Probleme lösen. Warum also schreibt man solche Werke? "Weil es eine Obsession ist", erzählt Schinkel, der sich nicht zwingen kann, nicht zu schreiben. "Etwas Künstlerisches zu produzieren, ist wie ein Kind zu haben." Umso trauriger wirkt er als er die Bedeutung von Kunst in Deutschland mit der in Armenien vergleicht. "Armenier müssen sich über Kultur selbst behaupten. Wir leben in einer Art Wohlstand, in dem Kultur nicht mehr so wichtig erscheint - sie ist leider nur Beiwerk."