Interview mit Friedrich Schorlemmer Interview mit Friedrich Schorlemmer: Schön und zugleich schrecklich

Merseburg/MZ - Der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer ist so streitbar. Am Dienstag hat der 69-Jährige, der auch Mitglied der SPD ist, in Merseburg aus seiner Autobiografie gelesen. Mit ihm sprach Felix Knothe.
Herr Schorlemmer, Sie sind zurück an Ihre alte Wirkungsstätte, Sie waren in den 1970er Jahren Studentenpfarrer in Merseburg. Welche Erinnerungen haben Sie an die Stadt?
Schorlemmer: Es waren freundschaftlich die schönsten Jahre meines Lebens, ökologisch die schrecklichsten. Im Herbst konnte man wegen Leuna und Buna manchmal nicht Rad fahren, weil die Nebeltröpfchen kohlenschwarz waren. Die Saale hatte Schaumkronen. Es war die ökologische Hölle. Aber: Wir hatten immer den wunderbaren Dom mit einem wunderbaren Organisten, Kirchenmusikdirektor Bauer, und die Zeit mit der Studentengemeinde war die erfüllendste Zeit meiner beruflichen Tätigkeit. Wie Sie wissen, wurde ja die Hochschule nach mir benannt.
Sie scherzen.
Schorlemmer: Klar. Sie hieß nach Karl Schorlemmer, einem Freund von Karl Marx. Die Stasi hat verbreitet, es sei eine Raffinesse der Kirche gewesen, mich dort hinzuschicken. So bekloppt waren die.
Was sagen Sie zur aktuellen Hochschuldebatte?
Schorlemmer: Es ist für unser armes Land ziemlich hart, wenn die Leute hier studieren aber woanders Arbeit finden. Das ist ein Dilemma. Aber wenn unser Land sich kulturell und geistig entleibt, dann haben wir gar nichts mehr. Unsere Ressource muss Bildung sein. Die Politiker sind aber auch nicht zu beneiden, müssen das, was sie tun, aber besser vermitteln.
Ihr Buch heißt „Klar sehen und doch hoffen“...
Schorlemmer: [unterbricht] Ja, das ist mein Lebensprinzip. Man muss klar sehen, was ist, und sich nichts vormachen lassen. Weder von der bunten Werbung heute noch von der roten Werbung früher. Die frühere Werbung war blöder, die heute ist geschickter. Man darf auch die Hoffnung nicht aufgeben, sonst handelt man nicht mehr, sondern wird zum Zyniker oder ganz und gar gleichgültig.
Nächstes Jahr feiern wir 25 Jahre friedliche Revolution. Welche Hoffnung von damals ist noch aktuell?
Schorlemmer: Damals haben wir gekämpft, dass wir beteiligt werden. Heute ziehen sich zu viele Leute zurück, wo sie sich einmischen könnten, und fangen an, Politik zu verachten. Das darf nicht sein. Wir brauchen Leute, die sich engagieren, sonst gibt es nur noch solche Politiker, die sich nicht darum scheren, dass sie verachtet werden. Aber ich will noch zu Merseburg etwas sagen.
Bitte.
Schorlemmer: Zu meiner Zeit gab es hier so viel Verfall. Nun finde ich es schön, dass die Stadt in vielem ihr Gesicht wiedergewonnen hat.
Friedrich Schorlemmer, Klar sehen und doch hoffen: Mein politisches Leben, Aufbau Verlag, 22,99 Euro